Todsünde
befreit von der drückenden Last der Ungewissheit. Es gab so vieles zu bedenken und zu planen, so viele Veränderungen zu bewältigen, und doch verspürte sie eine neue Leichtigkeit in ihrem Schritt, als sie die Treppe hinunterging, zurück in die Küche.
Das Wasser im Topf kochte inzwischen. Der aufsteigende Dampf wärmte ihr Gesicht wie die zärtliche Hand einer Mutter.
Sie gab zwei Teelöffel Olivenöl dazu und ließ dann die Gnocchi ins Wasser gleiten. Drei weitere Töpfe standen bereits auf dem Herd, und aus jedem strömte ein anderer Duft. Das Aroma der Küche ihrer Mutter. Sie sog die Düfte ein, und ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie diesen wunderbaren Ort plötzlich mit neuen Augen zu sehen begann – einen Ort, wo Liebe wirklich durch den Magen ging.
Als die Teigklößchen an die Oberfläche stiegen, schöpfte Jane sie ab, lud sie auf eine Platte und goss die Fleischsauce darüber.
Dann öffnete sie die Ofentür und nahm die Auflaufformen heraus, die sie zum Warmhalten hineingestellt hatten: Geröstete Kartoffeln, grüne Bohnen, Fleischklößchen, Manicotti. Eine Parade der Köstlichkeiten, die sie nun zusammen mit ihrer Mutter im Triumphzug ins Esszimmer trug. Und zuletzt kam natürlich der Truthahn, der fürstlich in der Mitte des Tisches platziert wurde, umringt von seinen italienischen Vettern. Es war mehr, als die Familie je würde essen können, aber das war eben der Sinn der Sache – eine Überfülle an Essen und Liebe.
Am Tisch saß sie Irene gegenüber und sah ihrer Schwägerin zu, wie sie die Zwillinge fütterte. Noch vor einer Stunde, als sie Irene im Wohnzimmer beobachtet hatte, hatte sie nur eine erschöpfte junge Frau gesehen, die ihr Leben praktisch bereits hinter sich hatte, deren Rocksaum schon ganz ausgeleiert war vom ständigen Zupfen der kleinen Hände. Jetzt sah sie dieselbe Frau an und erblickte eine ganz andere Irene, die lachend Preiselbeersoße in die kleinen Münder stopfte und deren Augen einen zärtlichen, verträumten Ausdruck annahmen, als sie ihre Lippen an einen der wuscheligen Lockenköpfe presste.
Ich sehe eine andere Frau, weil ich diejenige bin, die sich verändert hat, dachte sie. Nicht Irene.
Und als sie nach dem Essen Angela half, Kaffee zu kochen und süße Schlagsahne in die Cannoli-Röhrchen zu füllen, stellte sie fest, dass sie auch ihre Mutter nun mit neuen Augen sah. Sie sah Silberfäden in ihren Haaren, die sie bisher nie bemerkt hatte, und ein Gesicht, dessen Haut allmählich schlaff wurde. Bereust du es je, dass du uns bekommen hast, Mom? Hältst du jemals inne und fragst dich, ob du nicht einen Fehler gemacht hast? Oder warst du dir immer so sicher, wie ich es jetzt bin, wenn es um mein Baby geht?
»He, Janie!«, brüllte Frankie aus dem Wohnzimmer, »dein Handy klingelt in der Handtasche!«
»Kannst du bitte rangehen?«, rief sie zurück.
»Wir gucken das Spiel!«
»Ich habe die Hände voll Schlagsahne! Gehst du bitte ran?«
Kurz darauf kam er in die Küche gestapft und drückte ihr das Telefon in die Hand. »Ist irgendso ’n Typ.«
»Frost?«
»Nee. Keine Ahnung, wer es ist.«
Gabriel, war ihr nächster Gedanke. Er hat meine Nachricht gehört.
Sie ging zur Spüle und ließ sich bewusst viel Zeit beim Händewaschen. Als sie schließlich das Telefon nahm, konnte sie sich mit ruhiger Stimme melden. »Hallo?«
»Detective Rizzoli? Hier spricht Pater Brophy.«
Alle Anspannung fiel mit einem Schlag von ihr ab. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, dass ihre Mutter sie beobachtete, und sie war bemüht, sich die Enttäuschung nicht an der Stimme anmerken zu lassen.
»Ja?«
»Tut mir Leid, dass ich Sie an Heiligabend belästigen muss, aber ich kann Dr. Isles offenbar nicht ans Telefon bekommen, und – nun ja, es hat sich da etwas herausgestellt, was Sie meiner Meinung nach wissen sollten.«
»Was ist es?«
»Dr.Isles wollte die Anschrift von Schwester Ursulas nächsten Verwandten, und ich habe ihr angeboten, sie für sie herauszusuchen. Aber wie sich herausstellte, ist die Kartei unserer Pfarrei nicht mehr ganz aktuell. Wir haben eine alte Telefonnummer ihres Bruders in Denver, aber der Anschluss existiert nicht mehr.«
»Mutter Mary Clement hat mir gesagt, der Bruder sei gestorben.«
»Hat sie Ihnen auch gesagt, Schwester Ursula hätte einen Neffen, der in einem anderen Bundesstaat lebt?«
»Den hat die Äbtissin nicht erwähnt.«
»Er soll mit den Ärzten in Kontakt gestanden haben. Das
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