Todsünde
Tod persönlich nahe.
Maura hielt ihnen die Tür der Kapelle auf, damit sie die Bahre hinausschieben konnten, und folgte ihnen, als sie sie langsam über den Hof zum Wagen rollten. Auf der anderen Seite der Mauer wimmelte es von Fernsehleuten; Kameras wurden geschultert, um das klassische Bild der Tragödie einzufangen: die Leiche auf der Bahre, die Plastikhülle, unter der sich deutlich eine menschliche Gestalt abzeichnete. Zwar bekamen die Zuschauer das Opfer nicht zu Gesicht, doch sie würden hören, dass es sich um eine junge Frau handelte, und sie würden den Leichensack sehen und seinen Inhalt im Geiste sezieren. Ihre Fantasie würde Camilles Intimsphäre auf eine Art und Weise verletzen, wie Mauras Skalpell es niemals könnte.
Kaum hatte die Bahre die Klosterpforte passiert, als sich der Ring aus Reportern und Kameraleuten schon um sie zu schließen begann. Der Streifenbeamte, der auf die Meute einschrie und befahl zurückzutreten, wurde völlig ignoriert.
Dem Pfarrer gelang es schließlich, sie in die Schranken zu weisen. Er trat mit entschlossenem Schritt aus dem Tor, eine imposante Gestalt in Schwarz, vor der die Menge sich teilte. Seine zornige Stimme übertönte mühelos den chaotischen Lärm.
»Diese arme Schwester verdient Ihren Respekt! Warum benehmen Sie sich nicht entsprechend? Lassen Sie sie durch!«
Selbst Reporter sind bisweilen fähig, Scham zu empfinden, und ein paar von ihnen traten zurück, um die Männer mit der Bahre durchzulassen. Aber die Fernsehkameras liefen weiter, während sie in den Transporter geschoben wurde. Dann wandten sie sich gierig dem nächsten Opfer zu: Maura, die soeben unauffällig aus dem Tor getreten war und auf ihren Wagen zuging, eng in ihren Mantel gehüllt, als könnte sie dadurch der Aufmerksamkeit entgehen.
»Dr. Isles! Haben Sie ein Statement für uns?«
»Was war die Todesursache?«
»... irgendwelche Hinweise darauf, dass es ein Sexualverbrechen war?«
Während die Reporter sie umzingelten, kramte sie ihren Autoschlüssel aus der Handtasche hervor und drückte auf den Knopf, um die Zentralverriegelung zu lösen. Sie hatte gerade die Wagentür aufgerissen, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief. Doch diesmal lag echte Panik in der Stimme.
Als sie sich umdrehte, sah sie einen Mann reglos auf dem Gehsteig liegen. Mehrere Helfer beugten sich besorgt über ihn.
»Da liegt ein Kameramann am Boden!«, schrie jemand.
»Wir brauchen einen Krankenwagen!«
Maura schlug die Tür zu und eilte an die Seite des Gefallenen. »Was ist passiert?«, fragte sie. »Ist er ausgerutscht?«
»Nein, er ist gelaufen – und plötzlich ist er einfach so zusammengeklappt ...«
Sie ging neben ihm in die Hocke. Man hatte ihn bereits auf den Rücken gedreht, und sie erblickte einen korpulenten Mann zwischen fünfzig und sechzig, dessen Gesicht bereits dunkel anlief. Neben ihm im Schnee lag eine Fernsehkamera mit der Aufschrift WVSU.
Er atmete nicht mehr.
Sie legte ihm den Kopf in den Nacken, streckte den fleischigen Hals so weit wie möglich, um die Atemwege freizumachen. Dann beugte sie sich vor, um mit der Mund-zu-Mund-Beatmung zu beginnen. Der Geruch von Kaffee und abgestandenen Tabakrauch stieg ihr in die Nase, und sie musste gegen die aufsteigende Übelkeit ankämpfen. Sie dachte an Hepatitis und Aids und all die anderen mikroskopischen Schrecken, die in Körperflüssigkeiten lauerten, und musste sich zwingen, ihre Lippen auf die seinen zu legen. Dann atmete sie aus und sah, wie sein Brustkorb sich hob, als die Lungen sich mit Luft füllten. Noch zweimal beatmete sie ihn, dann tastete sie an der Halsschlagader nach einem Puls.
Nichts.
Als sie den Reißverschluss seiner Jacke öffnen wollte, stellte sie fest, dass jemand anderes ihr zuvorgekommen war. Sie blickte auf und sah, dass der Priester ihr gegenüber kniete und mit seinen kräftigen Händen bereits die Brust des Mannes nach Orientierungspunkten abtastete. Jetzt legte er die Handflächen auf das Brustbein und sah Maura fragend an, um sich zu vergewissern, dass er mit der Herzmassage beginnen sollte. Sie blickte in strahlend blaue Augen, ein Gesicht, das grimmige Entschlossenheit ausdrückte.
»Fangen Sie an«, sagte sie. »Los!«
Er machte sich voller Eifer an die Arbeit und zählte bei jeder Kompression laut mit, damit sie die Beatmung darauf abstimmen konnte. »Einundzwanzig, zweiundzwanzig ...«
Keine Panik in seiner Stimme, nur das ruhige, regelmäßige Zählen eines Mannes, der genau wusste, was er
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