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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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jetzt nicht annehmen.«
    »Er ruft schon das zweite Mal an. Er sagt, er kennt Sie.« Ja. Das kann man wohl sagen. »Wann war der erste Anruf?«, fragte Maura.
    »Heute Mittag, als Sie noch am Tatort waren. Ich habe Ihnen die Nachricht doch auf den Schreibtisch gelegt.«
    Unter einem Stapel Akten entdeckte Maura drei rosafarbene Abwesenheitsnotizen. Ja, da stand es. Anruf von DL Victor Banks, 12.45 Uhr. Sie starrte den Namen an, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Warum ausgerechnet jetzt?, fragte sie sich. Warum plötzlich dieser Anruf, nach so vielen Monaten? Wie kommst du darauf, dass du dich einfach so wieder in mein Leben einmischen kannst?
    »Was soll ich ihm sagen?«, wollte Louise wissen. Maura holte tief Luft. »Sagen Sie ihm, ich rufe zurück.« Und zwar dann, wenn ich so weit bin, nicht eher.
    Sie zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Papierkorb. Wenige Augenblicke später war ihr klar, dass sie sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Sie stand auf und zog den Mantel an.
    Louise schien überrascht, sie so gestiefelt und gespornt aus dem Büro kommen zu sehen. Maura ging gewöhnlich als Letzte; vor halb sechs machte sie so gut wie nie Feierabend. Jetzt war es noch nicht fünf, und Louise hatte gerade erst den Computer heruntergefahren.
    »Ich will nicht in den Berufsverkehr geraten«, sagte Maura.
    »Ich glaube, da sind Sie schon zu spät dran. Haben Sie mal aus dem Fenster geschaut? Die meisten städtischen Behörden haben ihre Angestellten schon nach Hause geschickt.«
    »Wann war das?«
    »Um vier.«
    »Warum sind Sie dann noch hier? Sie hätten auch Feierabend machen sollen.«
    »Mein Mann kommt mich abholen. Mein Auto ist doch in der Werkstatt, haben Sie das vergessen?«
    Maura zuckte zusammen. Ja, Louise hatte ihr das mit dem Wagen heute Morgen erzählt, und sie hatte es natürlich vergessen. Wie üblich war sie in Gedanken so bei ihren Toten gewesen, dass sie nicht genug auf die Stimmen der Lebenden gehört hatte. Sie sah zu, wie Louise sich einen Schal um den Hals schlang und ihren Mantel anzog, und sie dachte: Ich höre einfach nicht genug zu. Ich nehme mir nicht die Zeit, die Menschen richtig kennen zu lernen, solange sie noch am Leben sind. Jetzt arbeitete sie schon ein ganzes Jahr in diesem Institut, und noch immer wusste sie nur sehr wenig über das Privatleben ihrer Sekretärin. Louises Mann hatte sie nie kennen gelernt; sie wusste nur, dass er Vernon hieß, konnte sich aber nicht erinnern, wo er arbeitete oder was er genau machte. Das lag zum Teil daran, dass Louise ihr nur selten irgendwelche persönlichen Dinge erzählte. Liegt das vielleicht an mir?, fragte Maura sich. Spürt sie, dass ich keine gute Zuhörerin bin, dass ich mich lieber mit Skalpell und Diktiergerät beschäftige, als auf die Gefühle der Menschen um mich herum einzugehen?
    Schweigend gingen sie den Flur entlang zu dem Ausgang, der auf den Mitarbeiterparkplatz führte. Kein Smalltalk – sie waren nur zwei Menschen, die zufällig nebeneinander hergingen, weil sie dasselbe Ziel hatten.
    Louises Mann wartete schon im Wagen. Hektisch wedelten die Scheibenwischer im Schneetreiben hin und her. Als Louise und ihr Mann davonfuhren, winkte Maura ihnen zum Abschied zu und erntete prompt einen verdutzten Blick von Vernon, der sich wahrscheinlich fragte, wer diese Frau war, die sie so grüßte, als ob sie alte Bekannte wären.
    Als ob es irgendeinen Menschen gäbe, den sie wirklich kannte.
    Über den tückisch glatten Asphalt des Parkplatzes eilte Maura auf ihren Wagen zu und zog den Kopf ein, als ihr der Schneeregen spitze Nadeln ins Gesicht schleuderte. Sie hatte noch einen Besuch zu machen. Noch eine Pflichtaufgabe zu erfüllen, bevor ihr Arbeitstag zu Ende war.
    Sie fuhr zum St.-Francis-Hospital, um sich nach Schwester Ursulas Zustand zu erkundigen.
    Zwar hatte sie seit ihrer Assistenzzeit, die jetzt schon viele Jahre zurücklag, nicht mehr in einem Krankenhaus gearbeitet, doch die letzte Phase ihres praktischen Jahres, die sie auf der Intensivstation zugebracht hatte, war ihr noch in ebenso lebhafter wie unangenehmer Erinnerung. Die Momente der Panik; die Anstrengung, die es gekostet hatte, mit einem vom Schlafmangel benebelten Hirn einen klaren Gedanken zu fassen. Sie erinnerte sich an jene Nacht, in der während ihrer Schicht drei Patienten gestorben waren und alles schief gegangen war, was nur schief gehen konnte. Seither konnte sie keine Intensivstation mehr betreten, ohne dass die Schatten der

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