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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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hier verkrochen, wo es so angenehm still war, wo niemand ihr Gesicht sehen und den inneren Aufruhr bemerken konnte, der sich dort abzeichnete. Sie fragte sich, wie viel Dr. Isles schon gesehen hatte; vielleicht war ihr ja auch gar nichts aufgefallen. Sie schien sich schon immer mehr für die Toten als für die Lebenden interessiert zu haben, und wenn sie am Tatort eines Verbrechens auftauchte, war es stets die Leiche, der ihre ungeteilte Aufmerksamkeit galt.
    Endlich raffte Rizzoli sich auf und verließ die Kabine. Ihr Kopf war wieder klar, ihr Magen hatte sich beruhigt, und zumindest ein Schatten der alten Jane Rizzoli schien wieder von ihrem Körper Besitz zu ergreifen. Am Waschbecken spülte sie sich den Mund aus, um den sauren Geschmack loszuwerden, und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Kopf hoch, Mädchen! Sei kein Waschlappen! Wenn die Typen nur einen Riss in deiner Rüstung entdecken, zielen sie sofort darauf. So machen sie es immer. Sie schnappte sich ein Papierhandtuch und trocknete sich das Gesicht ab. Als sie das Tuch eben in den Abfalleimer werfen wollte, fiel ihr plötzlich Schwester Camilles Bett ein, und sie hielt in der Bewegung inne. Das Blut – das Blut auf dem Laken.
    Der Abfalleimer war halb voll. In dem Haufen zusammengeknüllter Papierhandtücher entdeckte sie auch ein kleines Bündel Toilettenpapier. Sie unterdrückte ihren Ekel und entfaltete es. Sie wusste bereits, was sie finden würde, aber der Anblick des Menstruationsbluts einer anderen Frau ließ sie trotzdem zusammenfahren. Sie hatte ständig mit Blut zu tun, und gerade eben noch hatte sie eine große Lache davon unter Camilles Leiche gesehen. Und doch war es der Anblick dieser Binde, der sie weit mehr mitnahm. Sie lag schwer in ihrer Hand, voll gesogen mit Blut. Deshalb bist du also aufgestanden, dachte sie. Weil du die feuchte Wärme zwischen deinen Schenkeln gespürt hast, das nasse Laken auf deiner nackten Haut. Du bist aufgestanden und zur Toilette gegangen, um die Binde zu wechseln, und hast die schmutzige hier in den Abfalleimer geworfen.
    Und dann ... was hast du dann getan?
    Rizzoli verließ die Toilette und ging zurück in Camilles Zimmer. Dr. Isles war nicht mehr da, und so stand sie allein vor dem Bett und blickte stirnrunzelnd auf die blutigen Laken – die einzigen Farbflecke im Grau-in-Grau dieser Zelle. Sie trat ans Fenster und blickte auf den Hof hinunter.
    Der Zuckerguss aus Schnee und Eis war inzwischen von den Spuren zahlreicher Schuhe durchzogen. Vor dem Tor war ein weiterer Fernsehwagen vorgefahren, das Team bereitete schon die Liveübertragung vor. Die Sensationsstory über die tote Nonne, direkt in die Wohnzimmer der Zuschauer geliefert. Es würde bestimmt die Hauptmeldung in den Fünf-Uhr-Nachrichten sein, dachte sie. Nonnen machen uns alle neugierig. Du musst nur dem Sex abschwören und dich hinter Klostermauern zurückziehen, und schon fragt sich jeder, welche Geheimnisse du wohl unter dieser Tracht verbirgst. Es ist die Keuschheit, die uns so fasziniert – eine Frau, die den Kampf mit dem mächtigsten aller Triebe aufnimmt, die sich dem Plan der Natur so radikal verweigert, ist uns allen ein Rätsel. Es ist ihre Reinheit, die uns klammheimlich erregt.
    Rizzoli ließ den Blick über den menschenleeren Hof zur Kapelle schweifen. Da sollte ich jetzt sein, dachte sie, und mit den Jungs von der Spurensicherung in der Kälte stehen. Und nicht hier in diesem nach Putzmittel riechenden Zimmer meine Zeit vertrödeln. Aber nur von hier aus konnte sie sehen, was Camille gesehen haben musste, als sie von ihrem nächtlichen Gang zur Toilette zurückgekommen war. Sie musste das Licht gesehen haben, das in den Buntglasfenstern der Kapelle geschimmert hatte.
    Ein Licht, das um diese Zeit nicht hätte brennen sollen.
    Maura sah zu, wie die beiden Mitarbeiter des Leichenschauhauses ein sauberes Laken ausbreiteten und Schwester Camille behutsam darauf betteten. Sie hatte schon oft beobachtet, wie Leichen abtransportiert wurden; meistens geschah es mit routinierter Effizienz, bisweilen auch mit unübersehbarem Widerwillen. Aber dann gab es auch immer wieder Opfer, die mit besonderer Vorsicht, ja geradezu Zärtlichkeit behandelt wurden. Kleinen Kindern etwa wurde solche Aufmerksamkeit zuteil – eine Hand stützte vorsichtig den Kopf, und selbst wenn der leblose Körper schon im Leichensack verschlossen war, wurde er niemals grob angefasst. Genau so behandelten sie auch Schwester Camille – fast so, als ginge ihnen ihr

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