Todsünde
sein.
Rizzoli hatte schon zu lange vor Nonis Stuhl gehockt. Jetzt richtete sie sich auf, um ihre Beine zu strecken. Es war schon acht Uhr, sie hatten das Abendessen ausfallen lassen, und Rizzolis Energiereserven schienen fast aufgebraucht. Sie stand da und betrachtete das Mädchen, dessen Haar genauso zerzaust war wie das ihre, dessen Miene genauso entschlossen war wie ihre eigene. Mit dem Ausdruck strapazierter Geduld fragte Rizzoli: »Gehst du oft rauf auf den Dachstuhl, Noni?«
Die Antwort war ein Nicken, das die staubigen Locken fliegen ließ.
»Und was machst du da so?«
»Nichts.«
»Du hast doch gerade gesagt, dass du mit deinen Puppen spielst.«
»Aber das weißt du doch schon.«
»Und was machst du sonst noch?« Das Mädchen zuckte mit den Schultern.
Rizzoli ließ nicht locker. »Na komm schon, es muss doch langweilig sein da oben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du so viel Zeit oben auf dem Dachboden verbringst, wenn es da nicht irgendwas Interessantes zu sehen gibt.«
Noni schlug die Augen nieder.
»Guckst du vielleicht auch mal den Schwestern zu? Du weißt schon – einfach nur, um zu sehen, was sie so machen?«
»Ich sehe sie doch die ganze Zeit.«
»Und wenn sie in ihren Zimmern sind?«
»Da darf ich nicht rein.«
»Aber schaust du ihnen nicht auch manchmal zu, wenn sie dich nicht sehen können? Wenn sie nicht wissen, dass du sie beobachtest?«
Noni hielt den Kopf immer noch gesenkt. »Das darf man nicht«, nuschelte sie in ihr Sweatshirt.
»Und du wirst dich hüten, so etwas zu tun!«, sagte Grace. »Das ist eine Verletzung der Privatsphäre, das habe ich dir schon einmal gesagt.«
Noni verschränkte die Arme vor der Brust und verkündete mit lauter Stimme: »Eine Verletzung der Privatfähre! « Es hörte sich ganz so an, als machte sie sich über ihre Mutter lustig. Grace lief rot an und machte eine Bewegung auf ihre Tochter zu, als ob sie sie schlagen wollte.
Rizzoli gebot ihr mit einer raschen Geste Einhalt. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns für ein paar Minuten allein zu lassen, Mrs. Otis? Ehrwürdige Mutter?«
»Sie haben gesagt, ich dürfte dabei sein«, protestierte Grace.
»Ich glaube, bei Noni müssen wir unsere speziellen polizeilichen Überredungsmethoden einsetzen. Es wird besser funktionieren, wenn Sie nicht dabei sind.«
»Ach so.« Grace nickte, und ihre Augen funkelten bösartig. »Selbstverständlich.« Rizzoli hatte die Frau richtig eingeschätzt: Grace war keineswegs daran interessiert, ihre Tochter zu schützen. Vielmehr wollte sie Noni bestraft wissen. Wollte sehen, wie sie eingeschüchtert, gefügig gemacht wurde. Grace warf Noni einen Blick zu, der sagte: Jetzt bist du fällig. Dann verließ sie den Raum, gefolgt von der Äbtissin.
Eine Zeit lang sagte niemand etwas. Noni saß mit gesenktem Kopf da, die Hände im Schoß verschränkt. Die kindliche Unschuld in Person. Was für eine Schauspielerin sie doch war.
Rizzoli zog einen Stuhl heran und setzte sich dem Mädchen gegenüber. Und dann wartete sie einfach nur ab, ohne ein Wort zu sprechen. Ließ die Stille für sich arbeiten.
Endlich schielte Noni zwischen wirren Locken hindurch verstohlen nach Rizzoli. »Worauf wartest du denn?«, fragte sie.
»Darauf, dass du mir sagst, was du in Camilles Zimmer gesehen hast. Ich weiß nämlich, dass du sie heimlich beobachtet hast. Ich habe das auch gemacht, als ich klein war. Die Erwachsenen ausspioniert. Um rauszukriegen, was für komische Sachen sie machen.«
»Das ist ’ne Verletzung der Privatfähre.«
»Ja, aber es macht Spaß, nicht wahr?«
Langsam hob Noni den Kopf und fixierte Rizzoli mit ihren dunklen, ernsthaften Augen. »Das ist ein Trick.«
»Ich trickse nicht, okay? Ich brauche deine Hilfe. Und ich denke, dass du ein kluges Mädchen bist. Ich wette, du siehst Sachen, die den Erwachsenen gar nicht auffallen. Oder, was meinst du?«
Noni hob genervt die Schultern. »Vielleicht.«
»Dann erzähl mir doch mal, was du gesehen hast. Was treiben die Nonnen denn so?«
»Meinst du die komischen Sachen, die sie machen?«
»Ja.«
Noni beugte sich zu Rizzoli vor und sagte leise: »Schwester Abigail muss eine Windel tragen. Sie macht sich in die Hose, weil sie schon total alt ist.«
»Wie alt ist sie denn, was meinst du?«
»Na, so fünfzig.«
»Ui. Das ist wirklich alt.«
»Schwester Cornelia bohrt in der Nase.«
»Igitt!«
»Und dann schnipst sie’s auf den Boden, wenn sie denkt, dass niemand hinguckt.«
»Igittigitt!«
»Und dann sagt
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