Todsünde
Kleinigkeiten. Sie können ihr nicht glauben – kein Wort.«
Maura sah die Äbtissin an, doch diese schüttelte nur ratlos den Kopf.
»Das Mädchen ist eigentlich immer ganz still und unauffällig gewesen«, sagte Mary Clement. »Deshalb haben wir Grace auch gestattet, sie zur Arbeit mitzubringen.«
»Ich kann mir keinen Babysitter leisten«, warf Grace ein. »Ich kann mir eigentlich gar nichts leisten. Ich könnte gar nicht arbeiten gehen, wenn ich sie nicht nach der Schule mitnehmen könnte.«
»Und sie wartet hier einfach nur auf Sie?«, fragte Maura.
»So lange, bis Sie Feierabend haben?«
»Was soll ich denn mit ihr machen? Ich muss schließlich arbeiten. Es ist ja nicht so, als würden sie meinen Mann dort umsonst pflegen. Heutzutage lassen sie einen noch nicht mal sterben, wenn man nicht das nötige Kleingeld hat.«
»Wie bitte?«
»Ich rede von meinem Mann. Er liegt im St.-Catherine’s-Hospiz. Der liebe Gott weiß, wie lange er es da noch aushalten muss.« Der Blick, den Grace der Äbtissin zuwarf, war wie ein Giftpfeil. »Dass ich hier arbeite, gehört mit zu der Vereinbarung.«
Offenbar keine Vereinbarung, mit der alle Beteiligten glücklich waren, dachte Maura. Grace war höchstens Mitte dreißig, aber es musste ihr so vorkommen, als hätte sie ihr Leben schon hinter sich. Sie war gefangen in ihren Verpflichtungen – gegenüber einer Tochter, für die sie offensichtlich kaum etwas empfand, und gegenüber einem Ehemann, der sich mit dem Sterben zu viel Zeit ließ. Für Grace Otis war Graystones Abbey kein Zufluchtsort, sondern ein Gefängnis.
»Warum ist Ihr Mann in St. Catherine’s?«, fragte Maura behutsam nach.
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Er liegt im Sterben.«
»Und was hat er?«
»ALS. Amyotrophische Lateralsklerose«, antwortete Grace mit unbewegter Stimme, doch Maura kannte die schreckliche Wirklichkeit hinter diesem Namen. Als Medizinstudentin hatte sie einmal einen Patienten mit amyotrophischer Lateralsklerose untersucht. Obwohl er bei vollem Bewusstsein war und Schmerzen empfinden konnte, hatte der Muskelschwund ihn bereits vollständig gelähmt – reduziert auf ein Gehirn, das in einem unbrauchbaren Körper gefangen war. Sie hatte sein Herz und seine Lungen untersucht und seinen Bauch abgetastet und hatte gespürt, dass er sie unentwegt ansah. Doch sie hatte seinen Blick gemieden, weil sie um die Verzweiflung wusste, die ihr aus seinen Augen entgegenblicken würde. Und als sie endlich sein Krankenzimmer verlassen hatte, da hatte sie sowohl Erleichterung als auch einen leisen Anflug von schlechtem Gewissen empfunden – aber nur einen Anflug. Seine Tragödie war schließlich nicht die ihre. Sie war nur eine Studentin, die flüchtig mit seinem Schicksal in Berührung gekommen war, und nichts verpflichtete sie dazu, die Bürde seines Unglücks mitzutragen. Es stand ihr frei, ihrer Wege zu gehen, und genau das hatte sie getan.
Aber Grace Otis konnte das nicht. Und das Ergebnis stand ihr in Falten des Grolls und der Verbitterung ins Gesicht geschrieben; es sprach aus den vorzeitig ergrauten Strähnen in ihrem Haar. »Ich habe Sie jedenfalls gewarnt«, sagte sie. »Man kann ihr nicht trauen. Sie erzählt gerne Geschichten. Und die sind manchmal absolut lächerlich.«
»Wir haben schon verstanden«, sagte Maura. »Das tun alle Kinder.«
»Aber wenn Sie mit ihr reden wollen, muss ich mit dabei sein. Ich muss doch aufpassen, dass sie sich anständig benimmt.«
»Natürlich. Das ist Ihr gutes Recht als Mutter.«
Jetzt endlich stand Grace auf. »Noni versteckt sich in der Küche. Ich gehe sie holen.«
Es vergingen einige Minuten, bis Grace wiederkam. An der Hand zerrte sie ein kleines Mädchen mit dunklen Haaren hinter sich her. Es war nicht zu übersehen, dass Noni nicht herauskommen wollte, und sie leistete bis zuletzt Widerstand, sträubte sich mit jeder Faser ihres kleinen Körpers gegen Grace’ erbarmungslosen Griff. Schließlich packte die Mutter das Mädchen kurzerhand unter den Armen und pflanzte es auf einen Stuhl, wobei sie es nicht gerade sanft anfasste, sondern vielmehr mit dem angewiderten Überdruss einer Frau, die am Ende ihrer Nerven ist. Das Mädchen blieb einen Moment lang ganz still sitzen; dass ihr Widerstand so schnell gebrochen worden war, schien ihr die Sprache verschlagen zu haben. Sie war ein lockenköpfiger Kobold mit trotzig vorgerecktem Kinn und lebhaften dunklen Augen, die rasch alle Gesichter am Tisch erfassten. Für Mary Clement hatte sie
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