Todsünde
von seinem Stuhl herunter und landete geräuschvoll auf dem Boden. Die Locken tanzten um ihre Stirn. »Sie war auch traurig wegen der Enten.«
»Mmh, das wäre jetzt gar nicht so übel«, meinte Rizzoli.
»Ein leckerer Entenbraten.«
»Sie hat sie immer gefüttert, aber dann sind alle weggeflogen, weil es Winter war. Meine Mama sagt, manche kommen nie mehr zurück, weil sie da unten im Süden aufgegessen werden.«
»Tja, so ist das Leben.« Rizzoli scheuchte sie weg. »Los, lauf schnell, deine Mama wartet schon.«
Das Mädchen war fast schon an der Küchentür, als Maura ihr nachrief: »Noni? Wo waren denn diese Enten, die Camille immer gefüttert hat?«
»Na, im Teich.«
»In welchem Teich?«
»Na, da hinterm Haus. Sie ist immer noch hingegangen und hat sie gesucht, obwohl sie schon längst weggeflogen waren, aber meine Mama hat gesagt, sie vergeudet nur ihre Zeit, weil sie wahrscheinlich alle in Florida sind. Disneyworld ist auch in Florida«, fügte sie noch hinzu, bevor sie zur Tür hinaushüpfte.
Es war lange still.
Dann wandte Rizzoli sich langsam zu Maura um und sah sie an. »Haben Sie auch gehört, was ich gerade gehört habe?«
»Ja.«
»Denken Sie ...« Maura nickte. »Sie müssen im Ententeich suchen.«
Es war schon fast zehn, als Maura in ihre Einfahrt einbog. Das Licht, das in ihrem Wohnzimmer brannte, erweckte den Eindruck, dass jemand zu Hause war und auf sie wartete, doch sie wusste genau, dass das Haus leer war. Es war immer nur ein leeres Haus, das auf sie wartete, und die Lampen wurden nicht etwa von Menschenhand eingeschaltet, sondern von drei Zeitschaltuhren, die sie für 5,99 Dollar im Supermarkt erstanden hatte. An den kurzen Wintertagen stellte sie sie auf 17.00 Uhr ein, um zu vermeiden, dass sie in ein dunkles Haus zurückkam. Sie hatte sich für den Vorort Brookline im Westen von Boston entschieden, weil er ihr mit seinen ruhigen, von Bäumen gesäumten Wohnstraßen ein Gefühl der Sicherheit vermittelte. Die meisten Leute hier waren Akademiker wie sie, die in der Stadt arbeiteten und jeden Abend vor der Hektik in diese Vorstadtoase flohen. Ihre unmittelbaren Nachbarn waren auf der einen Seite Mr. Telushkin, ein Experte für Robotertechnik aus Israel, und auf der anderen zwei Bürgerrechtsanwältinnen namens Lily und Susan. Im Sommer hielten sie alle ihre Vorgärten tipptopp in Schuss und putzten regelmäßig ihre Autos – eine moderne Version des amerikanischen Traums, in dem lesbische Paare und eingewanderte Ingenieure einander über sorgsam gestutzte Hecken fröhlich zuwinkten. Eine sicherere Wohngegend konnte man kaum finden, jedenfalls nicht in einer vergleichbar zentralen Lage – doch Maura wusste auch, dass alle Vorstellungen von absoluter Sicherheit im Grunde eine Illusion waren. Auf den Straßen, die in die Vorstädte führten, hatten Opfer und Täter gleichermaßen freie Fahrt. Auf ihrem Autopsietisch ging es demokratisch zu, hier gab es keine Vorurteile gegen Hausfrauen aus der Vorstadt.
Trotz des warmen, einladenden Scheins der Lampen im Wohnzimmer kam ihr das Haus kühl vor. Oder vielleicht hatte sie ganz einfach den Winter mit hereingebracht, wie eine dieser Zeichentrickfiguren, denen auf Schritt und Tritt eine dunkle Regenwolke folgt. Sie drehte den Thermostat auf und entfachte die Flamme im Gaskamin – jenem Gerät, das sie früher als spießige Attrappe abgelehnt hatte, das sie aber inzwischen sehr zu schätzen gelernt hatte. Feuer ist Feuer, dachte sie, ob man es nun mit einem Knopfdruck entzündet oder erst mühsam mit Streichholz und Schürhaken hantieren muss. An diesem Abend jedenfalls brauchte sie die Wärme und das beruhigende Flackern des Gasfeuers, und sie war froh, dass sie sich den Wunsch so schnell und einfach erfüllen konnte.
Sie goss sich ein Glas Sherry ein und machte es sich in dem Sessel am Kamin bequem. Durchs Fenster konnte sie die Weihnachtsbeleuchtung an dem Haus gegenüber funkeln sehen wie bunte Eiszapfen, die von der Dachrinne herabhingen. Der Anblick erinnerte sie daran, dass es bei ihr selbst mit der weihnachtlichen Stimmung noch nicht sehr weit her war. Sie hatte bis jetzt weder einen Baum noch irgendwelche Geschenke gekauft; noch nicht einmal Karten hatte sie besorgt. Es war schon das zweite Jahr, in dem sie sich der allgemeinen Weihnachtsseligkeit verweigerte. Vergangenen Winter war sie gerade erst nach Boston gezogen und so damit beschäftigt gewesen, ihre Umzugskisten auszupacken und sich in ihren neuen Job einzuarbeiten,
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