Todsünde
nur einen flüchtigen Blick übrig. Ein wenig intensiver musterte sie Maura, doch dann fanden ihre Augen Rizzoli und blieben an ihr haften, als wäre sie es als Einzige wert, beachtet zu werden. Wie ein Hund, der sich ausgerechnet den einzigen Asthmatiker unter den Anwesenden als Opfer aussucht, hatte Noni sich die Person herausgepickt, die am wenigsten mit Kindern anfangen konnte.
Grace stieß ihre Tochter an. »Du musst mit ihnen reden.« Noni verzog widerwillig das Gesicht. Und stieß mit einem heiseren Krächzen nur zwei Wörter hervor: »Mag nich’.«
»Es ist mir egal, ob du magst oder nicht. Die Leute sind von der Polizei.«
Noni fixierte weiterhin Rizzoli. »Die sehen aber nicht aus wie Polizisten.«
»Aber es sind trotzdem welche«, sagte Grace. »Und wenn du ihnen nicht die Wahrheit sagst, werfen sie dich ins Gefängnis.«
Jeder Polizist hasste es, wenn Eltern so etwas sagten. So brachte man den Kindern bei, sich vor den Menschen zu fürchten, denen sie eigentlich vertrauen sollten.
Rizzoli gab Grace rasch ein Zeichen, um sie zum Schweigen zu bringen. Dann ging sie vor Nonis Stuhl in die Hocke, so dass sie mit dem Mädchen auf Augenhöhe war. Mit ihren dunklen Locken und ihren ernsthaften Augen sahen sie einander so ähnlich, dass Rizzoli meinte, sich selbst in einer Miniaturausgabe vor sich zu haben. Wenn Noni auch noch genauso dickköpfig war wie sie, dann würden hier bald die Fetzen fliegen.
»Eins wollen wir gleich mal klarstellen, okay?«, sagte Rizzoli zu dem Mädchen. Ihr Ton war brüsk und direkt, als ob sie es nicht mit einem Kind, sondern einer kleinen Erwachsenen zu tun hätte. »Ich werde dich nicht ins Gefängnis werfen. Ich werfe nie Kinder ins Gefängnis.«
Das Mädchen beäugte sie skeptisch. »Auch nicht, wenn sie böse sind?«, fragte sie kritisch nach.
»Auch nicht, wenn sie böse sind.«
»Auch nicht, wenn sie ganz, ganz böse sind?«
Rizzoli zögerte, und in ihren Augen blitzte Unwille auf. Noni wollte einfach nicht lockerlassen. »Okay«, gestand sie. »Die ganz, ganz Superbösen schicke ich in die Jugendstrafanstalt.«
»Das ist ein Gefängnis für Kinder.«
»Ja, so was Ähnliches.«
»Also wirfst du doch Kinder ins Gefängnis.«
Rizzoli warf Maura einen Blick zu, der sagte: Ist das denn zu glauben! »Okay«, seufzte sie. »Der Punkt geht an dich. Aber dich werde ich nicht ins Gefängnis werfen. Ich will bloß mit dir reden.«
»Wieso hast du denn keine Uniform an?«
»Weil ich von der Kriminalpolizei bin. Wir tragen keine Uniform. Aber ich bin ein richtiger Polizist.«
»Aber du bist doch eine Frau.«
»Ja, okay – ich bin eine Polizistin. Also, willst du mir jetzt vielleicht erzählen, was du da oben auf dem Dachboden gemacht hast?«
Noni zog den Kopf ein und stierte Rizzoli einfach nur an wie ein Ölgötze. Eine volle Minute lang fixierten sie einander, während jede darauf wartete, dass die andere zuerst das Schweigen brach.
Endlich riss Grace der Geduldsfaden, und sie knuffte Noni unsanft in die Schulter. »Los! Sag’s ihr schon!«
»Bitte, Mrs. Otis«, sagte Rizzoli. »Das ist doch nicht nötig.«
»Aber Sie sehen doch, was das für eine ist! Auf die einfache Tour geht bei der gar nichts. Ständig macht sie nur Ärger.«
»Jetzt wollen wir doch mal ganz locker bleiben, okay? Ich kann warten.« Ich kann genauso lange warten wie du, Kleine, ließ Rizzolis Blick das Mädchen wissen. »Also komm schon, Noni. Sag uns, wo du diese Puppen her hast. Die, mit denen du da oben gespielt hast.«
»Ich hab sie nicht gestohlen.«
»Das habe ich ja auch nicht gesagt.«
»Ich hab sie gefunden. Eine ganze Kiste voll.«
»Wo?«
»Auf dem Dachboden. Da oben gibt’s noch mehr Kisten.«
»Du hättest gar nicht da oben sein dürfen«, mischte sich Grace ein. »Du sollst in der Nähe der Küche bleiben und niemanden ärgern.«
»Ich hab niemand geärgert. Und hier ist doch sowieso niemand, den man ärgern könnte.«
»Du hast die Puppen also auf dem Dachboden gefunden«, sagte Rizzoli, um wieder auf das eigentliche Thema zurückzukommen.
»Eine ganze Kiste voll.«
Rizzoli sah Mary Clement fragend an, worauf diese erklärte: »Sie stammen von einem Wohltätigkeitsprojekt, das wir vor einigen Jahren durchgeführt haben. Wir haben Puppenkleider genäht, als Teil einer Spende für ein Waisenhaus in Mexiko.«
»Du hast also die Puppen gefunden«, sagte Rizzoli zu Noni. »Und du hast da oben mit ihnen gespielt?«
»Es hat ja niemand sonst sie gebraucht.«
»Und
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