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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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woher wusstest du, wie man in den Dachboden reinkommt?«
    »Ich hab den Mann da reingehen sehen.«
    Den Mann? Rizzoli warf Maura einen raschen Blick zu. Dann rückte sie ein Stück näher an Noni heran. »Welchen Mann denn?«
    »Der hatte so Sachen an seinem Gürtel.«
    »Sachen?«
    »Einen Hammer und so.« Sie zeigte mit dem Finger auf die Äbtissin. »Sie hat ihn auch gesehen. Sie hat mit ihm geredet.«
    Mutter Mary Clement lachte erleichtert auf. »Ach, jetzt weiß ich, wen sie meint. Wir hatten in den letzten Monaten hier verschiedene Renovierungsarbeiten. Die Handwerker waren auch auf dem Dachstuhl, um die neue Isolierung zu verlegen.«
    »Wann war das?«, wollte Rizzoli wissen.
    »Im Oktober.«
    »Haben Sie von allen diesen Männern die Namen?«
    »Ich kann in den Büchern nachsehen. Wir führen Buch über sämtliche Zahlungen an Handwerker.«
    Es war also gar keine so sensationelle Enthüllung. Das Mädchen hatte gesehen, wie die Handwerker in einen verborgenen Winkel des Hauses eingestiegen waren, von dem sie nichts gewusst hatte. Eine rätselhafte Kammer, in die man nur durch eine Geheimtür gelangen konnte. Kein normales Kind hätte der Versuchung widerstehen können, einen Blick hineinzuwerfen – und schon gar nicht ein so neugieriges Mädchen wie Noni.
    »Und es hat dir gar nichts ausgemacht, dass es da oben so dunkel ist?«, fragte Rizzoli.
    »Ich hab doch eine Taschenlampe.« Was für eine doofe Frage, schien Nonis Tonfall zu besagen.
    »Du hattest gar keine Angst? So ganz allein?«
    »Wieso denn?«
    Ja, wieso? Das fragte Maura sich auch. Dieses kleine Mädchen war furchtlos; es ließ sich von der Dunkelheit ebenso wenig einschüchtern wie von der Polizei. Da saß sie und blickte Rizzoli ganz ruhig in die Augen, als ob sie es wäre, die das Gespräch führte. Aber so selbstsicher sie auch wirkte, sie war dennoch ein Kind, und dazu ein ziemlich verwahrlostes. Ihr Haar war ein wirrer Mopp, gepudert mit Staub vom Dachboden. Ihr rosa Sweatshirt sah aus, als hätten es schon mehrere Kinder vor ihr getragen; es war ein paar Nummern zu groß, und die umgeschlagenen Ärmel starrten vor Schmutz. Nur ihre Schuhe sahen neu aus – modische Kindersportschuhe mit Klettverschluss. Ihre Füße reichten nicht ganz bis auf den Boden, und sie schwang sie unentwegt in einem monotonen Rhythmus hin und her. Ein Metronom, gespeist von überschüssiger Energie.
    »Glauben Sie mir, ich habe nicht gewusst, dass sie sich da oben rumgetrieben hat«, sagte Grace. »Ich kann doch nicht pausenlos hinter ihr her sein. Ich muss schließlich dafür sorgen, dass das Essen rechtzeitig auf dem Tisch steht, und hinterher muss ich noch abräumen und spülen. Vor neun kommen wir nicht hier raus, und bis ich sie im Bett habe, ist es meistens zehn.« Grace sah Noni an. »Das ist ein Teil des Problems, wissen Sie. Sie ist immer müde und quengelig, und deshalb gibt es ständig Streit. Letztes Jahr habe ich wegen ihr ein Magengeschwür gekriegt. Hat mich so gestresst, dass mein Magen angefangen hat, sich selbst zu verdauen. Ich habe mich vor Schmerzen gekrümmt, aber meinen Sie, das hätte sie interessiert? Sie hat trotzdem jedes Mal Theater gemacht, wenn sie ins Bett oder in die Badewanne sollte. Kein Gedanke an andere. Aber so sind sie nun mal, die lieben Kleinen. Totale Egoisten. Die ganze Welt dreht sich nur um sie.«
    Während Grace ihrem Frust Luft machte, beobachtete Maura Nonis Reaktion. Das Mädchen saß vollkommen reglos da, es hatte aufgehört, mit den Füßen zu baumeln, und starrte mit störrisch zusammengepressten Lippen ins Leere. Doch in den dunklen Augen schimmerten kurz Tränen auf. Im nächsten Moment waren sie wieder verschwunden, verstohlen weggewischt mit einem schmutzigen Ärmelaufschlag. Sie hat schließlich Augen und Ohren im Kopf, dachte Maura. Sie hört den Zorn in der Stimme ihrer Mutter. Gewiss vermittelt Grace ihr Tag für Tag auf ein Dutzend verschiedene Arten und Weisen ihre Ablehnung. Und das Kind begreift. Kein Wunder, dass Noni schwierig ist; kein Wunder, dass sie Grace wütend macht. Denn diese Wut ist die einzige Gefühlsäußerung, die sie ihrer Mutter abringen kann, der einzige Beweis, dass sie überhaupt noch irgendwelche Gefühle für ihre Tochter hegt. Sie ist erst sieben Jahre alt, und sie weiß jetzt schon, dass alle ihre Bemühungen, die Liebe ihrer Mutter zu gewinnen, gescheitert sind. Sie weiß mehr, als die Erwachsenen ihr zutrauen, und was sie sieht und hört, kann nur schmerzhaft für sie

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