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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendjemand die anfassen will – und erst recht nicht vögeln.«
    »Möglich ist alles«, meinte Sleeper.
    »Vielleicht hat er sie ja auch nur entkleidet, um die Zerstörung der Leiche durch Tierfraß zu beschleunigen«, vermutete Maura.
    »Aber warum macht er sich dann die Mühe, die Kleider mitzunehmen?«
    »Es könnte eine weitere Maßnahme zur Verschleierung ihrer Identität sein.«
    »Ich glaube, er wollte sie einfach nur haben«, sagte Crowe.
    Maura sah ihn fragend an. »Wieso?«
    »Aus dem gleichen Grund, weshalb er ihr die Hände und Füße und das Gesicht abgeschnitten hat. Er wollte ein paar Andenken
    mitnehmen.« Crowe erwiderte Mauras Blick, und im schrägen Schein der Taschenlampen wirkte er noch größer als sonst. Bedrohlich. »Ich glaube, unser Knabe ist ein Sammler.«
    Die Außenbeleuchtung ihres Hauses war eingeschaltet; sie konnte den gelblichen Schimmer durch das Schneetreiben sehen. Ihr Haus war das einzige in der ganzen Straße, an dem um diese Zeit noch Licht brannte. Wie oft war sie zu später Stunde in ein Haus zurückgekehrt, in dem die Lichter nicht von Menschenhand, sondern von elektrischen Schaltuhren angeknipst worden waren. Heute Nacht, dachte sie, wartet tatsächlich jemand auf mich. Dann sah sie, dass Victors Wagen nicht mehr am Straßenrand stand. Er ist weggefahren, dachte sie. Ich komme wie üblich in ein leeres Haus zurück. Der Schein der Verandabeleuchtung, den sie als so heimelig und einladend empfunden hatte, kam ihr plötzlich kalt und anonym vor.
    Ein Gefühl der Leere breitete sich in ihrer Brust aus, als sie in die Einfahrt einbog. Doch was sie am meisten verstörte, war nicht die Tatsache, dass er gegangen war, sondern ihre eigene Reaktion darauf. Nur ein einziger Abend mit ihm, dachte sie, und schon bin ich wieder da, wo ich vor drei Jahren schon einmal war – meine Entschlossenheit gerät ins Wanken, meine Unabhängigkeit bekommt Risse.
    Sie drückte auf den Knopf der Fernbedienung, und das Garagentor öffnete sich rumpelnd. Ein verblüfftes Lachen entfuhr ihr, als sie den blauen Toyota erblickte, der auf dem linken Stellplatz parkte.
    Victor hatte nur sein Auto in die Garage gefahren.
    Sie stellte ihren Wagen neben dem Toyota ab, und nachdem das Garagentor sich hinter ihr geschlossen hatte, blieb sie noch einen Moment lang sitzen und registrierte sehr bewusst ihren beschleunigten Puls, das Gefühl erregter Erwartung, das wie eine Droge durch ihre Adern strömte. Von abgrundtiefer Verzweiflung
    zu ekstatischem Triumph in gerade mal zehn Sekunden. Sie musste sich daran erinnern, dass sich zwischen ihnen nichts geändert hatte. Dass sich zwischen ihnen nichts ändern konnte.
    Sie stieg aus, holte noch einmal tief Luft und betrat das Haus. »Victor?« Keine Antwort.
    Sie warf einen Blick ins Wohnzimmer und ging dann weiter den Flur entlang zur Küche. Die Kaffeetassen waren gespült und weggeräumt, sämtliche Spuren seines Besuchs beseitigt. Sie schaute in die Schlafzimmer und in ihr Arbeitszimmer – auch dort keine Spur von Victor.
    Erst als sie ins Wohnzimmer zurückging, fiel ihr Blick auf seine Füße. Sie steckten in schlichten weißen Socken und lugten hinter der Rückenlehne der Couch hervor. Maura trat näher und betrachtete den Schlafenden. Ein Arm hing schlaff zum Boden herab; sein Gesicht wirkte entspannt. Das war nicht der Victor, den sie von früher in Erinnerung hatte; der Mann, dessen explosive Leidenschaftlichkeit sie zunächst angezogen und später in die Flucht getrieben hatte. Was ihr von ihrer Ehe im Gedächtnis geblieben war, das waren ihre Auseinandersetzungen – die tiefen Wunden, die nur ein Liebender dem anderen zufügen kann. Die Scheidung hatte ihre Erinnerung an ihn verzerrt, hatte ihn in eine dunklere, zornigere Gestalt verwandelt. Sie hatte diese Erinnerungen bewahrt, hatte sie so lange gehegt und gepflegt, dass es ihr nun, als sie ihn so schutzlos vor sich sah, wie Schuppen von den Augen fiel.
    Früher habe ich dir oft beim Schlafen zugesehen. Früher einmal habe ich dich geliebt.
    Maura ging zum Wandschrank, holte eine Decke und breitete sie über ihn. Sie streckte die Hand aus, um ihm übers Haar zu streichen, und hielt mitten in der Bewegung inne.
    Er hatte die Augen aufgeschlagen und beobachtete sie.
    »Du bist wach«, sagte sie.
    »Ich wollte doch gar nicht einschlafen. Wie spät ist es denn?«
    »Halb drei.«
    Er stöhnte. »Ich wollte doch noch fahren ...«
    »Jetzt kannst du auch bleiben. Es

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