Todsünde
Ablage zu und griff nach dem Teststäbchen.
Sie musste nicht erst in der Gebrauchsanweisung nachsehen, um zu wissen, was der lila Streifen im Kontrollfeld bedeutete.
Wie sie wieder ins Schlafzimmer gekommen war, hatte sie vergessen. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie auf der Bettkante saß und das Teststäbchen auf dem Schoß hielt. Sie hatte die Farbe Lila nie gemocht – sie fand sie irgendwie zu teeniehaft, zu kitschig. Jetzt wurde ihr schon von dem bloßen Anblick übel. Sie hatte geglaubt, auf alles gefasst zu sein, aber da hatte sie sich getäuscht. Ihre Beine schliefen ein, weil sie zu lange in derselben Haltung verharrt hatte, doch sie schien sich einfach nicht aufraffen zu können. Auch ihr Gehirn war wie gelähmt; jeder Gedanke blieb im Sumpf des Schocks und der Unentschlossenheit stecken. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Das Erste, was ihr in den Sinn kam, war ein absolut kindischer und irrationaler Impuls.
Ich will zu meiner Mama.
Sie war vierunddreißig und stand längst auf eigenen Beinen. Sie hatte Türen eingetreten und Mörder zur Strecke gebracht. Einmal hatte sie einen Mann erschossen. Und jetzt saß sie da und sehnte sich plötzlich nur noch nach den Armen ihrer Mutter.
Das Telefon klingelte.
Sie starrte den Apparat an, als ob sie ihn noch nie gesehen hätte. Erst beim vierten Läuten hob sie endlich ab.
»He, bist du etwa noch zu Hause?«, fragte Frost. »Das ganze Team ist bereits da.«
Sie musste ihre ganze Konzentration zusammennehmen, um den Sinn seiner Worte zu erfassen. Das Team. Der Ententeich. Sie warf einen Blick auf ihren Wecker und erschrak. Acht Uhr fünfzehn.
»Rizzoli? Es ist alles vorbereitet für die Suche. Sollen wir schon mal ohne dich anfangen?«
»Ja, ich komme sofort.« Sie legte auf. Das Geräusch des Hörers, der auf die Gabel fiel, wirkte wie das Fingerschnipsen eines Hypnotiseurs. Sie setzte sich kerzengerade auf, ihre Trance war schlagartig verflogen, und von einer Sekunde auf die andere waren ihre Gedanken wieder voll auf die Arbeit konzentriert.
Sie warf das Teststäbchen in den Abfalleimer. Dann zog sie sich an und fuhr zum Einsatzort.
Die Rattenfrau.
Das ist alles, was von einem Menschenleben am Ende übrig bleibt, dachte Maura, als sie auf den Leichnam vor ihr auf dem Tisch blickte. Noch waren die grausigen Details unter einem Laken verborgen. Du hast keinen Namen, kein Gesicht, und wir reduzieren deine gesamte Existenz auf ein Wort, das doch nur die letzte Demütigung betont, mit der dein Leben endete – als Futter für hungrige Nager.
Es war Darren Crowe gewesen, der ihr am Abend zuvor den Namen verpasst hatte, als sie dort in der Restauranttoilette gestanden hatten und das scheue Getier vor den Lichtkegeln ihrer Taschenlampen davongehuscht war. Ganz beiläufig hatte er ihn in Gegenwart des Transportteams der Gerichtsmedizin fallen lassen, und als Maura am nächsten Morgen ins Büro kam, sprachen schon ihre Mitarbeiter von dem Opfer als der Rattenfrau. Sie wusste, dass es bloß ein griffiger Name für eine Frau war, die sonst einfach unter der Bezeichnung »unbekannte Tote« geführt worden wäre, und dennoch zuckte Maura unwillkürlich zusammen, als sie ihn sogar aus dem Mund von Detective Sleeper vernahm. So versuchen wir, mit dem Entsetzen umzugehen. So halten wir die Opfer auf Distanz. Indem wir sie mit einem Spitznamen, einer Diagnose oder einem Aktenzeichen benennen. Nur so können wir vergessen, dass es sich um Menschen handelt, deren Schicksal uns das Herz brechen würde, wenn wir es an uns heranließen.
Sie blickte auf, als Crowe und Sleeper das Labor betraten. Sleeper waren die Spuren der anstrengenden Nachtschicht deutlich anzusehen, und die grellen Lampen des Autopsiesaales beleuchteten gnadenlos sein müdes Gesicht mit den grauen Tränensäcken und den hängenden Wangen. Neben ihm wirkte Crowe wie ein junger Löwe, braun gebrannt, fit und platzend vor Selbstbewusstsein. Crowe war ein Mann, dem man besser nicht zu nahe trat; unter einer arroganten Fassade verbarg sich oft genug eine brutale Natur. Jetzt stand er da und blickte angewidert auf die Leiche herab. Diese Autopsie würde eher eine von der unangenehmen Sorte sein, und selbst Crowe schien der Leichenöffnung mit einer gewissen Beklommenheit entgegenzusehen.
»Die Röntgenbilder hängen schon«, sagte Maura. »Gehen wir doch rüber und schauen sie uns an, bevor wir loslegen.«
Sie ging zum Leuchtkasten an der rückwärtigen Wand des Saals und
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