Todsünde
schneit wie verrückt.«
»Ich habe das Auto in die Garage gefahren. Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Der Schneepflug ist vorbeigekommen ...«
»Sie hätten dich abgeschleppt, wenn du das Auto nicht weggefahren hättest. Das ist schon in Ordnung.« Sie lächelte und fügte leise hinzu: »Schlaf ruhig weiter.«
Ihre Blicke trafen sich. Sie sagte nichts, hin- und hergerissen zwischen Verlangen und Zweifel; zu deutlich waren ihr die Konsequenzen einer falschen Entscheidung bewusst. Gewiss dachten sie beide in diesem Moment dasselbe: dass ihr Schlafzimmer gleich nebenan war. Nur ein paar Schritte, eine zärtliche Umarmung – und schon wäre sie wieder genau dort, von wo sie damals mit so viel Mühe entkommen war.
Sie richtete sich auf – und es kostete sie so viel Kraft, als müsste sie sich aus tückischem Treibsand befreien. »Wir sehen uns dann morgen früh«, sagte sie.
War das Enttäuschung, die sie da in seinen Augen aufblitzen sah? Sie wusste es nicht, aber bei dem Gedanken, dass es immerhin möglich war, machte ihr Herz vor heimlicher Freude einen kleinen Satz.
Und dann lag sie in ihrem Bett und konnte nicht schlafen. Zu wissen, dass er in diesem Moment unter ihrem Dach war, in ihrem Reich – dieser Gedanke ließ ihr keine Ruhe. In San Francisco hatten sie in dem Haus gewohnt, das ihm schon vor ihrer Ehe gehört hatte, und sie hatte es nie wirklich als ihr eigenes betrachtet. Heute Nacht waren die Verhältnisse umgekehrt, und sie selbst hatte alles in der Hand. Was als Nächstes passierte, war ihre Entscheidung.
Die Freiheit erschreckte sie ...
Erst als sie die Augen aufschlug, wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich geschlafen hatte. Durch das Fenster fiel fahles Tageslicht. Sie blieb noch einen Moment im Bett liegen und rätselte, was sie wohl geweckt hatte. Was sie zu ihm sagen würde. Dann hörte sie das Rumpeln des Garagentors und das Motorgeräusch des Wagens, der auf die Straße zurücksetzte. Sie stieg aus dem Bett und trat ans Fenster – gerade rechtzeitig, um Victors Wagen davonfahren und um die Ecke biegen zu sehen.
8
Jane Rizzoli erwachte im Morgengrauen. Auf der Straße vor ihrem Haus war es ruhig, der Berufsverkehr hatte noch nicht voll eingesetzt. Sie lag da und starrte im Halbdunkel an die Decke. Komm schon, du musst es tun, dachte sie. Du kannst nicht ewig den Kopf in den Sand stecken.
Sie schaltete das Licht ein und blieb noch einen Moment auf der Bettkante sitzen, während eine Welle von Übelkeit ihr den Magen umdrehte. Es war kühl in ihrem Schlafzimmer, und dennoch schwitzte sie so sehr, dass ihr das T-Shirt auf der Haut klebte.
Es wurde allmählich Zeit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
Barfuß tappte sie ins Bad. Die Packung lag auf dem Toilettendeckel, wo sie sie am Abend hingelegt hatte, um sie nur ja nicht zu vergessen. Als ob sie eine Erinnerung gebraucht hätte. Sie öffnete die Schachtel, riss die Folie auf und nahm das Teststäbchen heraus. Am Abend zuvor hatte sie die Gebrauchsanweisung mehrmals durchgelesen, hatte sie praktisch auswendig gelernt. Trotzdem nahm sie sich jetzt die Zeit, sie noch einmal zu lesen. Auch eine Möglichkeit, den Moment noch etwas hinauszuzögern.
Endlich setzte sie sich auf die Toilette, hielt sich das Teststäbchen zwischen die Beine und pinkelte auf die Spitze, bis sie mit Morgenurin getränkt war.
Zwei Minuten warten, hieß es in der Anleitung.
Sie legte das Stäbchen auf die Ablage und ging in die Küche, wo sie sich ein Glas Orangensaft einschenkte. Dieselbe Hand, die eine Waffe halten, einen Schuss nach dem anderen abfeuern und jedes Mal ins Schwarze treffen konnte, zitterte jetzt wie Espenlaub, als sie das Glas zum Mund führte. Wie gelähmt starrte sie die Küchenuhr an, wartete ungeduldig, bis der Sekundenzeiger seine stockende Umdrehung vollendet hatte.
Die zwei Minuten verrannen, und sie spürte, wie ihr Puls schneller und schneller ging. Sie war noch nie ein Feigling gewesen, hatte sich nie davor gedrückt, dem Feind Auge in Auge gegenüberzutreten, aber das hier war eine andere Art von Angst, eine heimliche Angst, die sie innerlich verzehrte. Die Angst, dass sie die falsche Entscheidung treffen und den Rest ihres Lebens dafür büßen würde.
Verdammt noch mal, Jane. Bring’s einfach hinter dich.
Wütend auf sich selbst, angewidert von ihrer eigenen Feigheit, stellte sie das Glas ab und ging zurück ins Bad. Ohne noch einmal an der Tür innezuhalten, um ihren Mut zusammenzunehmen, ging sie schnurstracks auf die
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