Todsünde
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen ein Beispiel. Dieser Schädel hier wurde in einem mittelalterlichen Grab in Dänemark gefunden. Er war an einem abgelegenen Ort weit außerhalb des Friedhofs begraben. Hier können Sie erkennen, wie die entzündlichen Prozesse so viel vom Knochengewebe zerfressen haben, dass dort, wo die Nase sein sollte, nur noch ein klaffendes Loch ist. Wenn wir die Weichteile von Ihrem Schädel dort« – sie deutete auf das Röntgenbild – »abkochen würden, dann würden Sie eine große Ähnlichkeit mit diesem hier feststellen.«
»Sind das auch keine postmortalen Schäden? Könnte die Spitze des Nasenknochens nicht beim Abziehen der Gesichtshaut abgebrochen sein?«
»Das würde die Schwere der Veränderungen nicht erklären, die ich auf dieser Röntgenaufnahme erkennen kann. Und das ist noch nicht alles.« Dr. Cawley legte den Schädel beiseite und zeigte auf den Röntgenfilm. »Es liegt eine Atrophie und Zurückbildung des Oberkieferknochens vor. Und zwar so massiv, dass die oberen Scheidezähne unterminiert wurden und ausgefallen sind.«
»Ich hatte angenommen, dass das auf schlechte Zahnpflege zurückzuführen sei.«
»Das mag ein Faktor gewesen sein. Aber das hier ist etwas anderes. Das ist weit mehr als nur die Folge einer fortgeschrittenen Zahnfleischerkrankung.« Sie sah Maura an. »Haben Sie auch die anderen Röntgenprojektionen gemacht, die ich vorgeschlagen hatte?«
»Die sind in dem Umschlag. Wir haben eine Waters-Aufnahme und eine Reihe periapikaler Bilder gemacht, um den Oberkieferknochen deutlicher darzustellen.«
Cawley griff in den Umschlag und zog die restlichen Röntgenbilder heraus. Sie hängte eine periapikale Aufnahme auf, die die Unterseite der Nasenhöhle zeigte. Einen Augenblick lang sagte sie nichts, sondern starrte nur wie gebannt auf die weißlich schimmernden Umrisse des Knochens.
»Es ist Jahre her, dass ich so etwas zuletzt gesehen habe«, murmelte sie.
»Die Röntgenaufnahmen erlauben also eine Diagnose?«
Dr. Cawley schien sich mit Gewalt aus ihrer Trance reißen zu müssen. Sie wandte sich ab und nahm wieder den Schädel von ihrem Schreibtisch. »Hier«, sagte sie, indem sie ihn umdrehte, um Maura das Knochendach des harten Gaumens zu zeigen. »Sehen Sie, wie der Alveolarfortsatz des Oberkiefers zerklüftet und atrophiert ist? Die Entzündung hat den Knochen zerfressen, und das Zahnfleisch hat sich so stark zurückgebildet, dass die Schneidezähne ausgefallen sind. Aber die Atrophie hat da nicht Halt gemacht. Die Entzündung hat sich immer weiter durch den Knochen gefressen und nicht nur den Gaumen, sondern auch die knöchernen Nasenmuscheln zerstört. Das Gesicht wurde buchstäblich von innen her zerfressen, so lange, bis der harte Gaumen durchlöchert war und kollabierte.«
»Und wie sehr war diese Frau hier entstellt?«
Cawley drehte sich zum Leuchtkasten um und betrachtete das Röntgenbild der Rattenfrau. »Wenn sie im Mittelalter gelebt hätte, hätte man sie als Aussätzige bezeichnet und ängstlich gemieden.«
»Die Bilder reichen Ihnen also aus, um eine Diagnose zu stellen?«
Dr. Cawley nickte. »Diese Frau litt mit ziemlicher Sicherheit an Morbus Hansen.«
13
Morbus Hansen – das klang nicht allzu bedrohlich, solange man nicht wusste, was sich hinter der Bezeichnung verbarg. Doch die Krankheit hatte auch noch einen anderen Namen – einen Namen, in dem die Erinnerung an die Schrecken längst vergangener Zeiten mitschwang: Lepra. Das Wort beschwor Bilder von zerlumpten Krüppeln herauf, von Ausgestoßenen, die scheu ihr Gesicht verbargen, wenn sie um Almosen bettelten. Von Lepraglocken, deren Läuten die Gesunden vor dem Herannahen eines Monstrums warnte.
Doch diese »Monstren« waren lediglich die Opfer eines mikroskopisch kleinen Eindringlings: Mycobacterium lepiae ist ein langsam wachsender Erreger, der sich im Organismus vermehrt und zu grässlichen Entstellungen führt. Die Haut überzieht sich mit hässlichen Knötchen. Die Nerven in Händen und Füßen werden zerstört, so dass diese schließlich schmerzunempfindlich werden. Damit aber sind sie permanent der Gefahr von Verbrennungen, Verletzungen und Infektionen ausgesetzt. Mit den Jahren schreitet die Verstümmelung fort – die Knötchen werden dichter, der Nasensattel fällt ein. Die gefühllos gewordenen Finger und Zehen beginnen abzufaulen. Und wenn der Kranke dann nach langem Leiden stirbt, wird er nicht auf dem Friedhof begraben, sondern außerhalb der Mauern verscharrt.
Noch
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