Todsünde
jedenfalls nie gewesen.« Sie nahm an ihrem Schreibtisch Platz und atmete tief durch. »Knochen scheinen dagegen so viel sauberer – irgendwie weniger persönlich. Nur beim Anblick von Fleisch dreht sich einem der Magen um.«
»Ich habe auch die Röntgenaufnahmen mitgebracht, falls Sie sich die zuerst anschauen möchten.«
»Nein, die Fotos muss ich auch studieren. Ich muss die Haut sehen.« Bedächtig blätterte sie zum nächsten Foto um. Sie erstarrte, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Mein Gott«, murmelte sie, »was ist denn mit den Händen passiert?«
»Sie wurden entfernt.«
Cawley sah sie verwirrt an. »Von wem?«
»Wir nehmen an, dass es der Mörder war. Beide Hände wurden amputiert, ebenso wie große Teile der Füße.«
»Gesicht, Hände, Füße – das sind die ersten Körperteile, die ich mir ansehen würde, um die Diagnose stellen zu können.«
»Und genau das könnte der Grund dafür sein, dass er sie entfernt hat. Aber da sind noch andere Fotos, die Sie interessieren könnten. Die Hautläsionen.«
Cawley wandte sich dem nächsten Satz Fotos zu. »Ja«, murmelte sie, während sie langsam weiterblätterte. »Möglich ist es durchaus«
Mauras Blick ging zu der Reihe von Schädeln auf dem Regal, und sie fragte sich, wie Cawley in diesem Raum arbeiten konnte, inmitten all dieser leeren Augenhöhlen, die sie unentwegt anstarrten. Sie dachte an ihr eigenes Büro mit den Topfpflanzen und den Blumenbildern an der Wand – weit und breit nichts, was sie an den Tod erinnerte.
Aber Cawley hatte sich freiwillig mit diesen sichtbaren Beweisen ihrer eigenen Sterblichkeit umgeben. Als Professorin für Medizingeschichte war sie sowohl Ärztin als auch Historikerin – eine Frau, die aus einem Skelett das ganze Elend und Leid eines Menschenlebens herauslesen konnte. Sie konnte die Schädel auf ihrem Regal betrachten und in jedem eine persönliche Geschichte des Schmerzes erkennen. Eine alte Fraktur, ein impaktierter Weisheitszahn oder ein von einem Tumor durchsetzter Kieferknochen. Lange nachdem das Fleisch abgefallen ist, erzählen die Knochen immer noch ihre Geschichte. Und nach den zahlreichen Fotos an den Wänden zu schließen, die Dr.Cawley bei Ausgrabungen rund um den Globus zeigten, sammelte sie solche Geschichten schon seit Jahrzehnten.
Cawley blickte von einem Foto einer der Hautläsionen auf. »Manche dieser Knötchen erinnern tatsächlich an Schuppenflechte. Ich verstehe, wieso Sie unter anderem diese Diagnose in Betracht gezogen haben. Das könnten auch leukämische Infiltrate sein. Aber wir sprechen hier von einer Krankheit, die in vielen verschiedenen Gestalten auftreten kann. Sie kann alle möglichen Formen annehmen. Ich nehme an, dass Sie Gewebeproben der Haut entnommen haben?«
»Ja, einschließlich Färbung auf säurefeste Bakterien.«
»Und?«
»Ich konnte keine finden.«
Cawley zuckte mit den Achseln. »Vielleicht wurde sie medikamentös behandelt. In diesem Fall wären keine Bakterien mehr nachweisbar.«
»Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen. Ohne eine aktive Erkrankung, ohne identifizierbare Erreger, weiß ich nicht, wie ich zu einer Diagnose gelangen soll.«
»Lassen Sie mich einen Blick auf die Röntgenaufnahmen werfen.«
Maura reichte ihr den großen Umschlag, und Dr. Cawley ging damit zu dem Leuchtkasten, der an der Wand ihres Büros befestigt war. Zwischen all den Zeugen der Vergangenheit, mit denen das Büro voll gestopft war – den Schädeln, den alten Büchern und den Fotografien aus mehreren Jahrzehnten –, fielen nur der Leuchtkasten und der Laptop als eindeutig moderne Gerätschaften aus dem Rahmen.
Cawley blätterte die Röntgenbilder durch und steckte schließlich eines davon unter die Clips.
Es war eine frontale Schädelaufnahme. Unter dem verstümmelten weichen Gewebe war das Schädelskelett weitgehend intakt geblieben und leuchtete nun mit seinen leeren Augenhöhlen vor dem dunklen Hintergrund auf. Nachdem Cawley das Bild eingehend betrachtet hatte, nahm sie es ab und ersetzte es durch eine laterale Aufnahme, die den Kopf im Profil zeigte.
»Aha. Da haben wir es.«
»Was?«
»Sehen Sie das? Die Stelle, wo die Spina nasalis anterior sein sollte?« Cawley fuhr mit der Fingerspitze über die Stelle, wo sich der Nasensattel befunden hatte. »Hier liegt eine weit fortgeschrittene Knochenatrophie vor. Genauer gesagt, die Spitze des Nasenknochens ist fast vollständig zerstört.« Sie ging zu dem Regal mit den Schädeln und nahm einen davon herunter.
Weitere Kostenlose Bücher