Todsünde
fünfunddreißig, Schusswunde in der Brust. Sie wurde rund sechsunddreißig Stunden nach Eintritt des Todes in einem leer stehenden Gebäude gefunden. Postmortale Entfernung der Gesichtshaut sowie Amputation beider Hände und Füße.«
»Puh. Das muss vielleicht ein kranker Typ sein.«
»Es sind diese Hautläsionen, die ich nicht so recht einzuordnen weiß«, sagte sie und deutete auf die ausgebreiteten Fotografien. »Die Ratten haben schon einigen Schaden angerichtet, aber es ist noch genug intakte Hautfläche übrig, um das generelle Erscheinungsbild dieser Gewebeveränderung erkennen zu lassen.«
Dr. Costas nahm eines der Fotos zur Hand. »Ich bin zwar kein Experte«, erklärte er mit ernster Stimme, »aber für mich sieht das nach einem klassischen Fall von roten Beulen aus.«
Alles lachte. Wenn ein Arzt Schwierigkeiten hatte, eine Hautkrankheit zutreffend zu diagnostizieren, begnügte er sich häufig mit einer schlichten Beschreibung der beobachteten Veränderung. Rote Beulen oder Schwellungen können alle möglichen Ursachen haben, von einem viralen Infekt bis hin zu einer Autoimmunerkrankung, und wenige Hautveränderungen sind so spezifisch, dass eine sofortige Diagnose möglich ist.
Zwischen zwei Bissen seines Muffins nahm sich Dr. Bristol die Zeit, auf eines der Fotos zu zeigen und zu bemerken: »Einige der Stellen sind vereitert.«
»Richtig, manche der Knötchen weisen flache Geschwüre mit Krustenbildung auf. Und ein paar sind mit silbrigen Schuppen überzogen, die an Psoriasis denken lassen.«
»Wie sieht’s mit Bakterienkulturen aus?«
»Nichts Ungewöhnliches nachzuweisen. Nur Staph epi.«
Staphylococcus epidermidis war ein sehr verbreitetes Hautbakterium. Bristol zuckte nur mit den Achseln.
»Wahrscheinlich bloß Kontamination.«
»Und was sagen die Gewebeproben?«, fragte Costas.
»Ich habe mir die Präparate gestern angesehen«, erwiderte Maura. »Es liegen akute entzündliche Veränderungen vor. Ödembildung, Einwanderung von Granulozyten. Einige tiefe Mikroabszesse. Auch in den Blutgefäßen gibt es entzündliche Prozesse.«
»Und kein Bakterienwachstum?«
»Weder mit Gram- noch mit Fite-Faraco-Färbung ließen sich Bakterien nachweisen. Es handelt sich um sterile Abszesse.«
»Du kennst doch schon die Todesursache, nicht wahr?«, sagte Bristol. In seinem dunklen Bart hingen Muffinkrümel. »Ist es da wirklich so wichtig, was das für Knötchen sind?«
»Ich will auf jeden Fall vermeiden, dass mir irgendetwas Offensichtliches entgeht. Wir haben dieses Opfer noch nicht identifizieren können. Wir wissen rein gar nichts über sie, bis auf die Todesursache und die Tatsache, dass sie mit diesen Läsionen übersät war.«
»Und wie lautet nun deine Diagnose?«
Maura blickte auf die hässlichen Schwellungen herab, die sich wie ein Gebirge von Karbunkeln über die Haut der Toten zogen. » Erythema nodosum « , sagte sie.
»Ursache?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Idiopathisch.« Was übersetzt hieß: Ursache unbekannt.
Costas lachte. »Na, das ist ja wohl eine Diagnose für den Papierkorb.«
»Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll.«
»Wir auch nicht«, gestand Bristol. »Von mir aus können wir es Erythema nodosum nennen.«
Wenig später saß Maura an ihrem Schreibtisch und las den Autopsiebericht über die Rattenfrau, den sie diktiert hatte, noch einmal durch, bevor sie ihre Unterschrift darunter setzte. Sie war nicht zufrieden. Sie kannte den ungefähren Todeszeitpunkt sowie die Todesursache. Auch wusste sie, dass die Frau wahrscheinlich arm gewesen war und dass sie unter ihrem Aussehen gelitten haben musste.
Ihr Blick fiel auf den Kasten mit den Präparaten. Auf dem Etikett stand »Unbekannt, W« und die Fallnummer. Maura nahm einen der Objektträger heraus und schob ihn unter das Mikroskop. Durch das Okular erblickte sie rosafarbene und violette Wirbel. Es war eine Hämatoxylin-Eosin-Färbung der Haut. Maura sah die aktiven Entzündungszellen als dunkle Tupfer und den faserigen Kreis eines von weißen Blutkörperchen infiltrierten Gefäßes – ein Zeichen, dass der Körper sich wehrte, dass er seine Immunabwehr mobilisiert hatte, um ... ja, um was zu bekämpfen?
Wo saß der Feind?
Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und dachte an das, was sie bei der Autopsie gesehen hatte. Eine Frau ohne Gesicht, Hände und Füße, verstümmelt von einem Mörder, der seinem Opfer nicht nur das Leben, sondern auch die Identität raubte.
Aber warum die Füße? Warum hatte er
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