Todsünde
die Füße entfernt?
Wir haben es offenbar mit einem Mörder zu tun, der mit eiskalter Logik vorgeht, dachte sie, und nicht mit einem perversen Triebtäter. Er wählt die effizienteste Munition für den tödlichen Schuss. Er zieht das Opfer aus, aber vergeht sich nicht an ihm. Er amputiert der Leiche die Hände und Füße und zieht ihr die Gesichtshaut ab. Dann lässt er sie an einem Ort liegen, wo die Haut bald von Ratten angenagt werden wird.
Die Füße waren das Problem. Das Entfernen der Füße war logisch nicht zu erklären.
Sie suchte die Röntgenaufnahmen der Rattenfrau heraus und klemmte die Aufnahmen der Beinstümpfe an den Leuchtkasten. Wieder einmal schockierte sie der Anblick des brutal durchtrennten Gewebes, doch konnte sie immer noch keine Hinweise darauf entdecken, was den Killer zu der Amputation veranlasst haben könnte.
Sie nahm die Aufnahmen ab und ersetzte sie durch die Vorder- und Seitenansichten des Schädels. Eingehend betrachtete sie die Gesichtsknochen der Rattenfrau und versuchte sich vorzustellen, wie dieses Gesicht ausgesehen haben mochte. Du warst nicht älter als fünfundvierzig, dachte sie, und doch fehlten dir bereits die
Zähne im Oberkiefer, hattest du bereits den Kiefer einer wesentlich älteren Frau. Die Knochen deines Gesichts zersetzen sich von innen her, so dass deine Nase in einem immer weiter werdenden Krater einsinkt. Und dein Rumpf und deine Gliedmaßen sind mit hässlichen Knötchen und Geschwüren übersät. Jeder Blick in den Spiegel muss für dich schmerzhaft gewesen sein. Und gar das Haus zu verlassen, dich den neugierigen Blicken der Leute zu stellen ...
Sie starrte auf die weißlich schimmernden Abbildungen der Knochen am Leuchtkasten. Und sie dachte: Ich weiß, warum der Mörder die Füße mitgenommen hat.
Es waren nur noch zwei Tage bis Weihnachten, und als Maura den Campus der Harvard University betrat, fand sie das Gelände fast menschenleer. Der große Innenhof des Harvard Yard war eine einzige weiße Fläche, nur hier und da von Fußspuren durchkreuzt. Mit ihrer Aktentasche und einem großen Umschlag mit Röntgenaufnahmen unter dem Arm stapfte sie den Fußweg entlang. Der scharfe, metallische Geruch, der in der Luft lag, kündigte weitere Schneefälle an. Hier und da hingen noch ein paar verwelkte Blätter an den Bäumen und zitterten in der Brise. Für manche mochte die Szenerie ein idyllisches Motiv für eine Weihnachtskarte sein, doch sie sah nur die monotonen Grautöne des Winters – einer Jahreszeit, deren sie schon jetzt überdrüssig war.
Als sie das zur Universität gehörende Peabody-Museum für Archäologie erreichte, waren ihre Hosenaufschläge schon klatschnass, und kaltes Wasser rann ihr die Knöchel hinunter. Sie stampfte mit den Füßen auf, um den Schnee abzuschütteln, und betrat das Gebäude, durch das ein Hauch von Geschichte wehte. Die Holzstufen knarrten unter ihren Schritten, als sie die Treppe zum Kellergeschoss hinabstieg.
Das Erste, was ihr auffiel, als sie das düstere Büro von Dr. June Cawley betrat, waren die Totenköpfe – mindestens ein Dutzend menschliche Schädel, aufgereiht auf Regalen. Das
einzige Fenster, das sich hoch oben in der Wand befand, war halb zugeschneit, und das wenige Licht, das durch die Scheibe drang, schien direkt auf Dr. Cawleys Kopf. Sie war eine gut aussehende Frau mit hochgekämmtem grauem Haar, das in dem winterlichen Licht wie Zinn wirkte.
Sie gaben sich die Hand – eine merkwürdig maskuline Begrüßung unter Frauen.
»Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen«, sagte Maura.
»Ich bin schon ganz gespannt auf das, was Sie mir zeigen werden.« Dr. Cawley stand auf und schaltete eine Lampe ein. In dem gelblichen Licht wirkte der Raum plötzlich viel wärmer, fast gemütlich. »Ich arbeite gerne im Dunkeln«, erklärte sie und deutete auf ihren Schreibtisch, wo der Monitor eines Laptops seinen schwachen Schein verbreitete. »So kann ich mich besser konzentrieren. Aber es ist natürlich nicht besonders gut für meine geplagten Augen – man wird schließlich nicht jünger.«
Maura öffnete ihre Aktentasche und nahm eine Mappe mit Abzügen von Digitalfotos heraus. »Das sind die Aufnahmen, die ich von der Verstorbenen gemacht habe. Ich fürchte, es ist kein besonders schöner Anblick.« Dr. Cawley schlug die Mappe auf und betrachtete das Foto des verstümmelten Gesichts der Rattenfrau. »Es ist eine Weile her, dass ich zuletzt bei einer Autopsie dabei gewesen bin. Ein Vergnügen ist es
Weitere Kostenlose Bücher