Todsünde
der Opfer, Schwester Ursula, in einer Leprakolonie in Indien gearbeitet.«
»In einem Dorf, das es nicht mehr gibt«, sagte Maura.
Dean sah sie fragend an. »Wie bitte?«
»Es könnte ein religiös motiviertes Massaker gewesen sein. Fast hundert Menschen wurden dabei abgeschlachtet, und das Dorf wurde niedergebrannt.« Sie machte eine Pause. »Schwester Ursula war die einzige Überlebende.«
Sie hatte Gabriel Dean noch nie so perplex gesehen. Gewöhnlich war Dean derjenige, der mehr wusste als alle anderen und hier und da gezielt mit einer Überraschung aufwartete. Diese neue Information schien ihm die Sprache verschlagen zu haben.
Sie setzte noch eins drauf. »Ich glaube, dass unsere Unbekannte aus eben diesem indischen Dorf stammen könnte.«
»Mir haben Sie doch gesagt, dass Sie sie für eine Latina halten«, meinte Crowe.
»Das war nur eine Vermutung, zu der ich aufgrund ihrer Hautfarbe gelangt war.«
»Und jetzt passen Sie Ihre Vermutung den veränderten Umständen an?«
»Nein, ich passe sie den Ergebnissen der Autopsie an. Erinnern Sie sich noch an den gelben Stofffaden, den wir an ihrem Handgelenk gefunden haben?«
»Klar. Das Labor sagt, es handelt sich um Baumwolle. Wahrscheinlich nur ein Stück Bindfaden.«
»Das Tragen von Baumwollschnüren am Handgelenk soll vor dem bösen Blick schützen. Es ist ein hinduistischer Brauch.«
»Schon wieder Indien«, sagte Dean.
Maura nickte. »Alle Spuren führen nach Indien.«
»Eine Nonne und eine illegale Einwanderin mit Lepra?«, sagte Crowe. »Wie bringen wir das mit einem Mordanschlag im Auftrag eines Konzernmultis in Zusammenhang?« Er schüttelte den Kopf. »Man engagiert keinen Berufskiller, wenn man sich nicht einen massiven Vorteil davon erhofft.«
»Oder wenn man sehr viel zu verlieren hat«, meinte Maura.
»Wenn es sich in allen Fällen um Auftragsmorde handelt«, sagte Dean, »dann können Sie sicher sein, dass der Fortgang unserer Ermittlungen sehr genau verfolgt werden wird. Sie müssen streng darauf achten, dass keinerlei Informationen über diese Fälle nach außen dringen. Denn da draußen gibt es jemanden, der ganz genau beobachtet, was das Boston Police Department tut.«
Und der auch mich beobachtet, dachte Maura. Bei dem Gedanken lief es ihr eiskalt über den Rücken. Und sie war so exponiert. Wenn sie an einem Tatort auftauchte, wenn sie in den Fernsehnachrichten erschien, wenn sie zu ihrem Wagen ging. Sie war es gewohnt, im Mittelpunkt des Medieninteresses zu stehen, doch jetzt musste sie sich darüber im Klaren sein, dass die Reporter vielleicht nicht die Einzigen waren, die sie beobachteten. Und sie erinnerte sich an das Gefühl, das sie dort in den düsteren Räumen des ehemaligen Restaurants beschlichen hatte. Es war die lähmende Angst des Opfers, das schon den Atem des Jägers im Nacken spürt.
»Ich muss mir auch ein Bild von dem anderen Tatort machen«, fuhr Dean fort. »Von dem Kloster, in dem die Nonnen attackiert wurden.« Er sah Rizzoli an. »Könntest du vielleicht eine kleine Führung mit mir machen?«
Einen Moment lang hatte es den Anschein, als hätte Rizzoli ihn nicht gehört. Sie saß nur regungslos da und starrte das Foto des toten Howard Redfield im Kofferraum seines Wagens an.
»Jane?«
Sie atmete tief durch und straffte die Schultern, als ob sie plötzlich etwas gefunden hätte, was ihr neuen Mut gab. Neue Kraft.
»Also gut, auf geht’s«, sagte sie und stand auf. Sie sah Dean an. »Scheint, als wären wir wieder ein Team.«
15
Ich habe kein Problem damit. Ich habe kein Problem mit ihm.
Während Rizzoli nach Jamaica Plain fuhr, waren ihre Augen auf die Straße gerichtet, doch ihre Gedanken kreisten nur um Gabriel Dean. Ohne Vorwarnung war er wieder in ihr Leben getreten, und noch immer war sie zu geschockt, um sich über ihre eigenen Gefühlen im Klaren zu sein. Ihr Magen schlug Purzelbäume, ihre Hände fühlten sich taub an. Noch vor vierundzwanzig Stunden hatte sie geglaubt, die Trennung von ihm einigermaßen verwunden zu haben; sie hatte gehofft, mit Hilfe der Zeit und jeder Menge Ablenkung die Affäre irgendwann ganz vergessen zu können. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Jetzt würde sie ihn wieder ständig vor Augen haben, und aus ihrem Sinn konnte sie ihn erst recht nicht mehr verbannen.
Sie kam als Erste vor Graystones Abbey an und blieb im Wagen sitzen, um auf ihn zu warten. Sie war ein einziges Nervenbündel, und die Anspannung verursachte ihr Übelkeit.
Reiß dich zusammen, Mensch.
Weitere Kostenlose Bücher