Todtsteltzers Ehre
Familien vergaß oder vergab niemand.
Solange es nicht zweckdienlich war.
Robert schloß einen Moment lang die Augen. Er war todmüde. Jemand würde für das bezahlen, was er durchmachte, und
auf keinen Fall er selbst. Er würde das verdammte Spiel mitspielen, aber auf seine Art und nach eigenen Regeln, und der
liebe Gott mochte jedem helfen, der ihm dabei in die Quere
kam. Er bemerkte, daß Baxter nicht mehr redete, und blickte
sich scharf um.
»Tut mir leid, ich wollte nur die Augen ausruhen. War etwas? Habe ich etwas versäumt?«
»Ich fragte nach dem kleinen Portrait rechts von Euch, Sir«,
sagte Baxter. »Es ist das einzige Portrait, das Ihr mitgebracht
habt. Eine höchst liebreizende junge Dame. Ist sie diejenige,
für die ich sie halte?«
»Ja«, antwortete Robert, »das ist sie. Es ist Letitia.« Er starrte
ausdruckslos auf das Bild in dem silbernen Rahmen eine der
wenigen Habseligkeiten, die er mitgebracht hatte. Alles, was
übriggeblieben war von der letzten Einmischung der Familie in
sein Leben. »Sie war wirklich bezaubernd. Ich vermute, alle
Welt kennt die Geschichte. Sie war seinerzeit ein recht ansehnlicher Skandal. Beinahe hätte ich Letitia geheiratet. Eine arrangierte Hochzeit, aber ich mochte die Dame. Mit der Zeit hätte
ich mich womöglich gar in sie verliebt. Aber anläßlich der
Hochzeit wurde erkennbar, daß sie schon schwanger war, von
einem ihrer Wachleute. Und Gregor Shreck ermordete sie lieber, als hinzunehmen, daß die Hochzeit ihren Fortgang nahm
und seine Familie entehrte. Ich wollte Letitia retten, aber die
Familie hielt mich zurück. Ich denke, damals habe ich meinen
Haß auf die Clans entwickelt. Auf sie alle.«
»Familienehre ist … eine heikle Angelegenheit, Sir. Es ist oft
schwierig zu erkennen, was das Beste ist.«
»Gregor hat sie vor meinen Augen umgebracht. Ich hätte ihn
damals getötet, falls ich in der Lage gewesen wäre. Vielleicht
tue ich es noch.«
»Dann, so fürchte ich, müßt Ihr Euch anstellen, Sir. Gregor
Shreck ist zur Zeit nicht mehr der beliebteste Vertreter auf dem
gesellschaftlichem Parkett. Tatsächlich möchte ich sogar anzudeuten wagen, daß Feigwarzen wahrscheinlich populärer sind
als er.«
Robert mußte lachen. »Schön zu sehen, daß sich manches nie
ändert! Und ich vermute, eine Gesellschaft, die Gregor Shreck
haßt, kann nicht ganz schlecht sein. Er kann warten. Der Wiederaufbau des Clans hat Vorrang. Dazu bin ich heimgekehrt.«
»Sehr wohl, Sir. Und falls ich so kühn sein darf: Ich bin sicher, daß viele junge Damen aus gutem Hause nur zu glücklich
sein würden, sich mit einem jungen Edelmann und Kriegshelden wie Euch zu verbinden, Sir.«
»Nein!« entgegnete Robert scharf. »Keine arrangierten
Hochzeiten mehr!«
»Verzeihung, Sir, ich habe volles Verständnis für Eure Gefühle in diesem Punkt, aber falls Ihr Euren Clan führen möchtet, wird es notwendig sein, irgendwann zu heiraten und Erben
zu zeugen.«
»Ja, ich weiß. Aber jetzt noch nicht.«
»Setzt ihn nicht unter Druck, Baxter. Robert kann stur sein
wie ein taubes Maultier, wenn er es sich fest vornimmt. Das ist
ein Wesenszug der Feldglöcks.«
Robert drehte sich lächelnd um, als die Eigentümerin der
weittragenden, durchdringenden Stimme auf ihn zukam. Kaum
hatte Adrienne gehört, daß Robert zurückgekehrt war, da arrangierte sie schon, daß er bei ihr wohnte, während sie sich um
die Einzelheiten seiner Rückkehr auf das gesellschaftliche Parkett kümmerte. Robert hatte keinen Einwand erhoben. Bei
Adrienne tat man das nicht. Und er freute sich auch, eine sichere und ihm wohlgesonnene Bleibe zu finden, wo er zur Ruhe
kommen konnte. Das alte Familienheim, der Feldglöck-Turm,
war von den Wolfs übernommen worden. Er hatte keinen Anspruch mehr darauf. Und so kampierten er und Baxter zur Zeit
in Adriennes etwas überfülltem Haus und versuchten, hin und
wieder selbst mal zu Wort zu kommen. Adrienne hatte nahezu
das Management seines Lebens übernommen. Im Grunde
machte es ihm nichts aus. Es weckte glückliche Erinnerungen
an seine Zeit beim Militär. Adrienne gab dem Schneider jetzt
mit gebieterischem Wink zu verstehen, er möge sich entfernen , und er brach sich fast den Rücken, während er sich mit einer
Serie von Bücklingen durch den Raum zurückzog. Adrienne
musterte Baxter scharf.
»Nun, wie macht er sich?«
»So gut, wie man erwarten konnte, gnä’ Frau. Er zeigt eine
beklagenswerte Neigung zur Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit,
aber
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