Todtstelzers Schicksal
Diese
Muster waren auf jedem Gesicht unterschiedlich ausgeführt,
stilisiert wie das Makeup eines Clowns. Die Liege fuhr für einen Moment langsamer, damit zwei der gespenstischen Gestalten sie übernehmen konnten. Die Stimmen der Albinos waren
ein heiseres Flüstern voller Schmerz und Zorn und Hunger,
voller endloser ungestillter Gelüste, wie der staubige Atem
antiker Mumien. Langsam wurde Hazel sich der Tatsache bewusst, dass sie diese Leute kannte. Es waren die Blutläufer,
eine uralte Kultur, ein Seitenzweig der Menschheit, auf eigenen
Wunsch hin in den verbotenen Obeah Systemen isoliert. Man
erzählte sich, sie hätten die Finger in jedem schmutzigen und
illegalen Geschäft, das im Imperium getätigt wurde, und niemand wäre stark genug, ihnen ihren dreckigen Zehnten zu verweigern. Des Weiteren wurde leise und verstohlen gemunkelt,
sie betrieben diese Geschäfte nur, um Mittel für ihre niemals
endenden Experimente zu erwerben, mit denen sie das Leiden
und den Tod und die Unsterblichkeit erforschten. Für die Blutläufer waren Menschen nichts weiter als beliebige Laborratten,
Exemplare, die man nach Bedarf prüfte und zerstörte und
wegwarf.
Niemand erhob Einwände, nicht mal in den höchsten Kreisen
des Imperiums. Niemand wagte es. Und Hazel D’Ark war diesen Leuten in die Hände gefallen. Furcht durchströmte sie wie
langsames Gift und spornte sie an, wacher zu werden. Ihre Gedanken klärten sich zum ersten Mal nach einer Zeit, die ihr
lang vorkam. Sie erinnerte sich an die Missionsstation auf Lachrymae Christi und daran, wie Owen sie verzweifelt zu
warnen versuchte und wie sich dann ein schimmerndes silbernes Energiefeld um sie schloss. Die Blutläufer hatten sie Owen
entrissen, und keiner von beiden hatte es verhindern können.
Als die Blutläufer das Kraftfeld schließlich senkten, wehrte
sich Hazel heftig gegen sie; sie stellten jedoch etwas mit ihr an,
mit ihrem Körper und ihrem Verstand, und für lange Zeit
schwebte sie durch dunkle und ungemütliche Träume. Sie erinnerte sich vage an große weiße Gesichter, die über ihr aufragten und sagten, Hazel wäre ohne ihre besonderen Kräfte nutzlos für sie. Sie wollten warten, bis sie wiederhergestellt war,
und dann mit ihren Untersuchungen beginnen. Hazel versuchte
sich zu entsinnen, was das für besondere Kräfte gewesen sein
könnten und wie sie sie gegen ihre Entführer einsetzen könnte,
aber das Nachdenken fiel ihr immer noch so schwer. Der
Schlaf zupfte an den Zipfeln ihres Bewusstseins, und sie musste alle Kräfte aufbieten, um ihn abzuwehren.
Die Liege vollführte eine scharfe Wende nach rechts in einen
weiteren gemauerten Korridor. Hazel hatte keine Vorstellung
davon, wie lange sie jetzt schon unterwegs war oder wohin es
letztlich ging. Sie hatte Angst, aber es war bislang eine vage,
unbestimmte Furcht. Sie zwang sich dazu, die Umgebung in
Augenschein zu nehmen, sich darauf zu konzentrieren, um die
Gedanken zu ordnen. Die Decke war massives graues Mauerwerk, narbig und verdunkelt von ungeahnten Zeitaltern. Die
Wände zu beiden Seiten bestanden aus massiven Blöcken des
gleichen grauen Steins, ordentlich und ohne eine Spur von
Mörtel verfugt. Menschenarme ragten hier und dort aus den
Wänden, wie von der anderen Seite aus hindurchgesteckt. Sie
hielten brennende Fackeln in Haltern aus mattem Ton. Die
Fackeln flackerten ständig, als würden sie von feinen Strömungen in der Luft gestört. Die Arme bewegten sich nie, und die
um die Tonhalter geschlossenen Finger waren reglos wie der
Tod.
Es war kalt in dem Korridor, und es roch alt und staubig. Die
einzigen Geräusche stammten vom Quietschen der Liegenräder
und gelegentlich murmelnden Stimmen. Hazel wehrte sich gegen die Riemen, die sie fest hielten, aber sie saßen zu stramm.
Sie war hilflos und allein und in der Hand ihrer Feinde.
Die Liege kam in einem geräumigen Steinzimmer mit einem
Ruck zum Stehen. Ohne den Kopf zu bewegen, versuchte Hazel, so viel wie möglich von der neuen Umgebung zu erkennen.
Die Wände und die niedrige Decke des Raums bestanden wieder aus dem gleichen grauen Stein, ohne Auflockerung durch
irgendwelche Verzierungen, von den lebenden Fackelhaltern
einmal abgesehen. Aber dann holte Hazel scharf Luft, als sie
einen abgetrennten Menschenkopf auf einem matten Zinnsokkel erblickte. Der Kopf war noch lebendig und bei Bewusstsein. Die Haut wies eine normale Färbung auf, aber die obere
Hälfte des Schädels war entfernt
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