Töchter auf Zeit
Hochstuhl und schmierte Fingerfarbe auf das Tablett. Maura malte mit Wasserfarben, hatte aber zu viel Wasser erwischt und ihr Bild eines Sonnenuntergangs wellte sich. Zum Mittagessen gab es Spaghetti mit Muscheln, Butter und Parmesan. Danach legte ich Sam für ein Nickerchen in ihr Bett, während sich Maura einen Disneyfilm ansah.
Ich ging kurz ins Schlafzimmer und zog die Schublade meiner Kommode auf. Ich legte mir den zweiundzwanzig Seiten langen Bericht – die Beurteilung von Dr. Elle hinsichtlich unserer Eignung als Eltern – auf den Schoß. Ich schlug die erste Seite auf und fing an zu lesen.
Tim und Helen Francis sind ein Ehepaar, das sehr liebevoll miteinander umgeht und sich nichts sehnlicher wünscht, als eine Tochter aus China zu adoptieren. Sie leben in einem geräumigen Haus im nordwestlichen Teil von Washington, D. C., in einem ruhigen Stadtteil mit vielen Bäumen und Grünflächen. Die Francis‘ hätten gerne zwei Kinder. Mrs. Francis hat eine Schwester, der sie sehr nahesteht. Für sie ist dieses Verhältnis sehr wichtig, und sie möchte, dass ihre Tochter dieselbeErfahrung mit einer solchen schwesterlichen Vertrauensperson macht. Das Ehepaar beabsichtigt, sich zunächst um ein Kind zu kümmern und später ein zweites Kind zu adoptieren.
Ich legte den Bericht wieder weg, schloss meine Augen und ließ mich rücklings aufs Bett fallen.
Claire
, flehte ich,
bitte.
Im darauffolgenden Monat wurde Claire wieder ins Krankenhaus eingeliefert. Ihre Lungen waren voller Flüssigkeit. Nachdem ich Maura zur Schule gebracht hatte, fuhren Sam und ich weiter in die Klinik. Auf dem Parkplatz stand schon Larrys LeSabre. Als ich den Flur entlangging und ihr Zimmer betreten wollte, hielt ich kurz inne und spähte erst mal hinein. Larry saß am Bettrand, hielt Claires Hand und weinte. Ich trat einen Schritt zurück und taumelte zur nächsten Wand, an der ich dann nach unten sank. Ich drückte Sam eng an mich. Ich holte tief Luft, weil ich das Bild, das ich gerade gesehen hatte, erst einmal verarbeiten musste: ein Vater, der angekommen war.
Am nächsten Tag ging ich in die St. Mary’s Kirche. Ich saß auf der Bank, hatte mein Gesicht in den Händen vergraben, doch dann sah ich hoch und starrte Jesus am Kreuz an. Was hatte Mom dort gefunden, was hatte Claire dort gesehen, wenn sie in der Bankreihe saßen? Weshalb konnte ich das nicht sehen? Weshalb hielten sie so unerschütterlich an ihrem Glauben fest, wo ich nur Beweise sah, die den Schluss nahelegten, dass es keinen Gott gab?
Jesus, Gott, Maria – hallo, hört mich jemand?
, wollte ich schreien.
So helft mir doch!
Wieder warf ich einen Blick auf Jesus am Kreuz, die Nägel in seinen Handflächen, die Blutstropfen, den nach oben gerichteten Blick. Plötzlich durchfuhr mich ein Schauer, der sich von meinem Nacken bis zu meinen Armen hinunterzog.
Das ist es! Das fehlende Puzzleteil. Ein Wunder!
Es
könnte geschehen
. Es war das Einzige, was mir noch blieb.
Bitte, lieber Gott. Bitte.
Ich betete für Claire, ich flehte Gott an, meine Schwester zu retten. Nach dem Abendmahl kniete ich mich wieder hin und sagte alle Gebete auf, die mir problemlos über die Lippen kamen: Vaterunser, Gloria Patri und das Apostolische Glaubensbekenntnis. Ich spürte am ganzen Körper, wie eine tiefe innere Ruhe sich einstellte – Ausdruck meiner Hoffnung, Hilfe wäre bereits unterwegs. Als Zugabe betete ich noch ein paar Ave Maria, denn wenn jemand wusste, was Mutterschaft bedeutete, dann doch wohl die heilige Maria.
Wie an jedem Tag holten Sam und ich Maura von der Schule ab und fuhren weiter ins Krankenhaus. Als ich den Wagen abgestellt hatte und einen Blick nach hinten warf, sah ich, dass Sam eingeschlafen war. Seit Neuestem ballte sie ihre Hände nicht mehr zur Faust, was für mich hieß, dass sie keine Angst mehr hatte, sondern im Schlaf entspannen konnte.
»Maura, mein Schatz? Wollen wir zu deiner Mom gehen?«
»Ich will aber nicht«, schmollte Maura trotzig.
»Aber deine Mommy möchte dich gerne sehen«, sagte ich. »Sie hat dich ganz doll lieb. Du musst jetzt ein großes, tapferes Mädchen sein, okay?«
»Mommys Haut fühlt sich komisch an und sie sieht ganz anders aus.«
Maura änderte sich durch die Krankheit ihrer Mutter. Ihr offener, freundlicher und vertrauensvoller Ausdruck war verschwunden, stattdessen sah sie meist mürrisch oder ängstlich drein. Oft blickte sie finster und nur selten verzog sich ihr Mund zu einem breiten Grinsen. Auch mich hatte damals
Weitere Kostenlose Bücher