Töchter auf Zeit
dass ich sie nie wieder sehen und berühren konnte.
»Das da ist nicht mehr Claire. Meine Frau, Mauras Mutter – sie ist nicht mehr da.«
Wieder nickte ich. »Ich weiß, Ross, ich weiß«, sagte ich mit so viel Mitgefühl, wie ich nur konnte. Ich drückte Claires Hand noch fester und sah Ross in die Augen. »Können wir das bitte nicht heute entscheiden?«
»Aber ich ertrage ihren Anblick nicht mehr.«
»Ich flehe dich an, Ross. Bitte nicht heute.«
Ross drehte sich auf dem Absatz um und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
Ich wich noch zwei ganze Tage nicht von Claires Seite. Ich schlief in ihrem Bett, trug Pflegebalsam auf ihre Lippen auf und cremte ihre Hände ein. Ich bürstete ihr Haar und schminkte ihre Wangen mit Rouge. Ich massierte ihren Rücken mit Tigerbalsam, denn vielleicht tat er ihr weh – bei unserer Mutter war es so gewesen.
Am letzten Tag im April, als auch mir klar war, dass kein Wunder mehr geschehen würde, stellten die Ärzte die Maschinen ab und ich presste mich an meine Schwester, bis sie keinen Atemzug mehr tat.
Zwei Tage später sollte Claire beerdigt werden. Ich wollte gerade mit Sam aus der Badewanne steigen, als das Telefon läutete. Eine automatische Ansage vom Band teilte mir mit, dass es das Büro für Genetik des Fairfax Hospitals war. Ich holte tief Luft und nahm nur mit einem Handtuch um meine Hüften und Sam im Arm das Gespräch an.
»Guten Tag, Mrs Francis, hier ist Michelle vom Büro für Genetik. Ihre Bluttestergebnisse sind da.«
Für den Bruchteil einer Sekunde wollte ich, dass sie mir ein erhöhtes Risiko bestätigte. Ich wollte hören, dass mich das gleiche Schicksal erwartete wie meine Mutter und meine Schwester. Für den Bruchteil einer Sekunde wollte ich, dass sie mir eine einfache Fahrkarte – ohne Rückfahrt – zu Claire in die Hand drückt.
»Und?«, krächzte ich.
»Gute Nachrichten. Wir konnten diese Genmutation nicht in Ihrem Blut nachweisen.«
»Danke, Gott, danke.« Dann brach ich in Tränen aus, denn mir wurde klar, dass ich mich eben mit meinen Gedanken verrannt hatte. Ich wollte zwar Claire um jeden Preis wiedersehen, aber ich wollte ebenso sehr weiterleben. Eine von uns musste schließlich für Sam und Maura da sein. Ich wickelte das Handtuch enger um Sam.
»Es freut mich für Sie«, sagte Michelle dann. »Bitte kommen Sie trotzdem alle vier bis sechs Monate zur Vorsorgeuntersuchung.«
»Ja, mach ich.« Noch immer rubbelte ich gedankenverloren Sams Rücken trocken. »Danke für die tollen Nachrichten. Hm …«
»Haben Sie noch Fragen?«
»Nein«, antwortete ich zögerlich »Es ist nur …«
»Was denn?«
»Meine Schwester ist gestorben.« Ich wusste gar nicht, weshalb ich Michelle das erzählte. Vielleicht war es eine Art Testlauf, weil ich wissen wollte, ob ich das Unfassbare auch aussprechen könnte. »Sie wird heute früh begraben.«
»Oh, Mrs Francis. Das tut mir ja so leid für Sie.«
»Ich will es nicht auch kriegen«, sagte ich und klang wie eine Sechsjährige mit der Angst vor Masern.
»Manche Frauen, in deren Familien das ähnlich häufig vorkommt, lassen vorsorglich eine Hysterektomie machen. Nicht, dass ich Ihnen das auch empfehlen würde. Ich wollte es nur mal gesagt haben.«
»Danke, Michelle. Fürs Zuhören.«
KAPITEL 21
Wir trugen Claire an einem kühlen Morgen im Mai zu Grabe. Pater O’Meara hielt den Trauergottesdienst ab. Sarah, eine Freundin aus Claires Collegezeit – die ich auf Claires und Ross‘ Hochzeit kennengelernt hatte –, sang das »Ave Maria«. Claire hätte das bestimmt gefallen, dachte ich, als ich den eindringlichen klaren Tönen lauschte. Dieses Lied hatte meiner Schwester sehr viel bedeutet. Aber Claire war nicht mehr bei uns, sie war tot. Sie konnte dieses Lied nicht mehr hören. Aber das dachte ich bestimmt nur, weil ich meinen Glauben verloren hatte. Wenn Mom jetzt hier wäre, würde sie das ganz anders sehen. Sie wäre sich ganz sicher gewesen, dass Claire das Timbre ihrer Freundin hören könnte, dass sie Maura auf dem Schoß ihres Vaters strampeln sehen würde und dass sie die Liebe der Menschen, die sich heute hier versammelt hatten, um ihr zu gedenken, spüren könnte.
Nach dem Gottesdienst fuhren wir zum Friedhof, Tim saß am Steuer, Larry neben ihm auf dem Beifahrersitz. Ich saß hinten im Fond, rechts von mir der Kindersitz mit Sam und links von mir Maura, die sich eng an mich schmiegte. Ich hatte ihr vorher zugeflüstert, dass sich ihr Dad bestimmt freuen
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