Töchter auf Zeit
ich niemals von mir gedacht hätte, dass ich meine Familie im Stich lassen und mich vor meiner Verantwortung drücken würde, noch dazu, wo eure Mutter krank war. Ich hätte mein Leben dagegen gewettet. Aber ich habe genau das getan. Konnte ich Claire also so ein Versprechen, eine Garantie geben? Nein! Ich konnte verstehen, weshalb ihr das nicht reichte.«
Larry stellte sich wieder an Claires Bett und legte ihr sanft die Hand auf ihren Kopf. »Claire hat verdammt gute Arbeit geleistet in all den Jahren. Wir haben kein Recht, ihre Entscheidung infrage zu stellen.«
Von Claires Schultern fiel spürbar eine große Last ab. Wann hatte sich jemand das letzte Mal für sie eingesetzt? Wann hatte ihr Vater ihr zuletzt den Rücken gestärkt?
»Hinterher ist man immer klüger«, sagte Larry. »Und wir alle können die Vergangenheit nicht mehr ändern. Was geschehen ist, ist geschehen. Niemandem tut das mehr leid als mir, aber so ist das nun mal. Hauptsache, wir sind jetzt und hier füreinander da. Und jetzt wollen wir die Vergangenheit ein für alle Mal ruhen lassen.«
KAPITEL 20
Eine Woche später wurde Claire aus dem Krankenhaus entlassen, da die Ärzte der Ansicht waren, dass es ihr zu Hause an nichts fehlen würde. Sie hatten uns auch gesagt, dass es Claire nicht anders ergehen würde als meiner Mutter und wir alles tun sollten, um es für sie so angenehm wie möglich zu machen. Die Ärzte würden sich in der Zwischenzeit Gedanken über weitere Behandlungsmöglichkeiten machen, sofern sie überhaupt noch etwas für sie tun konnten. Die Rede war von »palliativer Pflege«, was prinzipiell eine sinnvolle Sache war, aber mit Heilung nichts zu tun hatte. Als die Ärzte uns das alles erklärten, nickte ich, aber ein Teil von mir schrie:
Ihr täuscht euch alle. Meine Claire wird wieder gesund. Ihr werdet schon sehen!
Ich konnte es einfach nicht fassen, dass Claire sterbenskrank sein sollte. Diese Gleichung ging nicht auf; das durfte nicht sein. Claire durfte nicht sterben, sie musste ihre Tochter großziehen, und auch ich wollte und konnte nicht ohne sie leben. Die Chancen standen schlecht, aber Claire hatte es schon immer geschafft. Ich hätte unser Haus darauf gesetzt, dass Claire den Krebs besiegte, selbst wenn die Ärzte ihr nur eine zehnprozentige Überlebenschance einräumten.
Claire hatte mich gebeten, Maura abzuholen, und natürlich kam ich ihrer Bitte nach. Als ich ihr Haus betrat, setzte ich Sam auf den Teppich im Wohnzimmer neben ihre große Cousine, die sich gerade
Nick Jr.
im Fernsehen ansah. Ross stand in der Küche und telefonierte. Ich winkte ihm zu, zeigte auf die Mädels, um ihm zu bedeuten, dass er ein Auge auf sie werfen solle, und ging nach oben zu Claire.
Die Schlafzimmertür war zu. Ich öffnete sie nur einen Spalt und sah Claire in Jeans und einem Sweatshirt vor ihrem Bett knien. Sie hatte ihr dickes Haar zu einem losen Pferdeschwanzzusammengefasst, ein paar Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Sie betete den Rosenkranz und hielt die einzelnen Perlen so vorsichtig, als wären sie Diamanten. Sie war so konzentriert bei der Sache, dass sie mich nicht bemerkte. Wie konnte jemand wie Claire – mit eisernem Willen und beinharten Überzeugungen – sich auf einen so kindlichen Glauben besinnen, der sie jeden Tag auf die Knie zwang? Leise schloss ich die Tür, um sie nicht zu stören. Offensichtlich hatte ihr Glaube nichts mit dem zu tun, was ich im Religionsunterricht auswendig lernen musste, um Mom glücklich zu machen, sondern war von einer Qualität, die jedes Gramm ihres Seins durchdrang. Sie schien völlig darin aufzugehen. Zum millionsten Mal in meinem Leben fragte ich mich voller Neid, aus welchem Holz Claire geschnitzt war, obwohl ich genau wusste, welchen Kampf sie gerade focht.
Unten marschierte ich schnurstracks in die Küche zu Ross.
»Wie geht es dir?«, fragte ich ihn, nachdem er sein Telefonat beendet hatte.
»Beschissen«, antwortete er. Ross empfand nur noch eine unsägliche Wut auf alles und jeden. Er sah aus, als könne er es mit einer Gang brutaler Schläger aufnehmen – mit links. Ich sah mir die Delle in der Verandatür an. Jede Wette, dass seine Faust perfekt hineinpassen würde. Und das konnte ich ihm nicht verübeln.
»Sie sieht gut aus heute«, meinte ich fröhlich.
»Sie stirbt«, presste Ross durch zusammengekniffene Lippen. »Ist doch scheißegal, wie sie aussieht.«
»Das kannst du nicht wissen«, schnappte ich zurück.
»Was muss denn noch passieren, Helen,
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