Töchter auf Zeit
sauste den Korridor entlang bis in die Empfangshalle.
Die Automatiktüren öffneten sich zum Spielplatz hin, die kühle Luft tat gut. Maura hob Eicheln und Pinienzapfen vom Boden auf, und ich stand einfach nur da, sah ihr zu, lehnte mein Kinn auf Sams Kopf und kam ins Grübeln. Pater O’Meara war ein ständiger Besucher von Claire. Auch dieser Besuch musste nicht zwangsläufig etwas bedeuten. Vielleicht war er aus einem anderen Grund hier, nicht wegen der Krankensalbung oder weil er Claire die Sterbesakramente geben wollte. Ja, ganz sicher war das nicht der Grund, dachte ich. Es durfte doch nicht sein, dass er deshalb da war.
Eine halbe Stunde später hatte uns Pater O’Meara am Spielplatz entdeckt.
»Wie geht es Ihnen?«
»Danke, gut«, sagte ich in ungewollt schroffem Tonfall.
»Sie machen gerade eine schlimme Zeit durch.«
»Das schaffen wir schon.«
Sanft legte er mir die Hand auf meine Schulter. Der Ärmel seiner Soutane und das Weiß seines Kragens stachen mir ins Auge. »Es ist an der Zeit, sich von Ihrer Schwester zu verabschieden.«
Ich trat einen Schritt zurück, sodass seine Hand von meiner Schulter fiel.
»Nein. Ich werde auf keinen Fall …«
»Claire hat ihre Krankheit angenommen …«
»Nein, hat sie nicht«, erwiderte ich heftig.
Der Pater nickte und senkte den Kopf.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Pater«, stammelte ich. »Aber mir geht’s gut. Und Claire wird es bestimmt bald bessergehen.«
»Wenn Sie jemanden zum Reden brauchen …«
»Es wird ziemlich kalt und windig. Ich muss die Mädels reinbringen.« Mit diesen Worten hob ich Sam hoch und streckte meine Hand nach Maura aus.
Ich wollte mich nicht von Claire verabschieden. Das Einzige, was ich wollte, war, sie spüren zu lassen, wie sehr ich sie liebte, dass ich mich nicht anders, als sie selbst es täte, um ihre Tochter kümmern würde und dass ich auf ein Wunder hoffte. Meine Schwester wusste, dass mein Herz für sie blutete, ganz gleich, ob sie noch einen Tag oder fünf Jahre leben würde.
Fünf Wochen später fiel Claire, die mittlerweile in einem Krankenzimmer lag, das Moms verdammt ähnlich sah, ins Koma. Als ich sie ansah, wurde mir schmerzlich bewusst, dass sie nicht mehr aussah wie die Schwester, die ich einst gekannt hatte. Ihre Haut war wachsweiß, in ihren Augen nicht ein Funken Leben und sie bestand nur noch aus Haut und Knochen. Doch jedes Mal, wenn ich erst meinen Blick von ihr abwandte und sie dann wieder ansah, erhaschte ich – für den Bruchteil einer Sekunde – ein flüchtiges Bild von der mir so vertrauten Person.
Ich kann dich noch immer sehen
, sagte mir mein Verstand dann. Doch was war es, das in mir ein vertrautes Gefühl erweckte? Der Schwung ihrer Lippen? Ihre Wangenknochen, die so sehr hervortraten, dass ihr Gesicht eine perfekte Herzform angenommen hatte?
»Sie hängt an lebenserhaltenden Apparaten«, sagte Ross, der plötzlich im Türrahmen stand. »Sie zeigt keinerleiHirnaktivitäten mehr. Der Doktor hat gesagt, wir müssen entscheiden, wann wir die … du weißt schon …«
»… die Maschinen abschalten?«
»Ja. Es sind nur noch die Maschinen. Claire ist nicht mehr bei uns.« Bei dem Wort
bei uns
brach seine Stimme. Er ging zum Fenster und hieb mit der Faust gegen die Wand. In letzter Zeit hatte seine Faust ziemlich oft Bekanntschaft mit einer Wand gemacht.
Ich nickte langsam. Ich musste für Ross stark sein. Er litt entsetzlich, und jeder von uns brauchte etwas anderes. »Es hat aber doch keine Eile, oder?«
»Was hat das für einen Sinn, sie weiterhin künstlich am Leben zu erhalten?«, fragte mich Ross. »Claire ist gegangen.«
»Ich weiß«, pflichtete ich ihm bei. »Ich möchte aber noch eine Zeit lang hier bei ihr sitzen.« Ich rückte ganz nah an meine Schwester heran, machte meine Territorialansprüche damit geltend und streichelte ihre zarte Hand.
»Ich würde gerne damit abschließen«, entgegnete Ross. »Ich möchte die Maschinen lieber früher als später abschalten. Maura hat sich bereits von ihr verabschiedet. Ich will unter keinen Umständen, dass sie ihre Mutter so sieht.«
Ich nickte. Ross brauchte mein Mitgefühl. Ich durfte ihm keinen zusätzlichen Kummer bereiten. Aber auch ich hatte Bedürfnisse. Ich brauchte mehr Zeit mit Claire, und mir war es egal – ehrlich, mir war es in diesem Augenblick völlig egal –, ob sie hirntot war oder nicht. Ich war noch nicht so weit, sie loszulassen. Ich war noch nicht bereit, mich mit dem Gedanken zu befassen,
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