Töchter auf Zeit
der Tür und durfte mir anhören, wie mich Claire verteidigte. »Sie wird ihre Hausaufgaben in Zukunft machen, versprochen. Sie muss eben erst noch lernen, sich zu konzentrieren. Sie wird sich bessern, das verspreche ich Ihnen. Nein, Sie dürfen sie nicht von der Schule weisen. OhneAbschluss hat sie doch überhaupt keine Chance. Sie wissen doch, dass unsere Mutter gestorben ist, oder? Geben Sie ihr noch ein wenig Zeit. Sie trauert noch sehr um ihre Mutter. Aber so ist sie nun mal.«
Ross kam wieder zu uns zurück. Tim schenkte Wein aus.
Claire lächelte und schob sich dann ein Stück von Tims Bruschetta in den Mund. »Hm, das schmeckt ja himmlisch«, gurrte sie. »Einfach nur köstlich!«
»Das ist echt nichts Besonderes«, meinte Tim. »Nur Scampi vom Grill, Avocado, Knoblauch und ein paar Chiliflocken.«
»Nur in der Pfanne angebraten?«
»Wenn du magst, zeig ich dir, wie’s geht.«
»In was ich baden könnte, sind diese Kartoffelteile, die Helen immer macht«, warf Ross ein.
»Blinis«, sagte ich. Blinis waren eine meiner Spezialitäten, als ich noch in der Abendschicht kochte: Kartoffeln, Mehl, Crème fraîche, Eier. Ein unverfälschter, cremig-warmer, im Mund schmelzender Hochgenuss.
»Wenn ihr das nächste Mal zu uns kommt, mach ich euch welche.«
»Warum nicht gleich jetzt?«, fragte Tim.
»Ist das dein Ernst?«, gab ich zurück und warf einen Blick in die Küche, als würde ich in den Schlund eines Monsters blicken. Es war schon so lange her, dass ich abends in der Küche stand oder mir meinen Weg durch die Souschefs bahnen musste. Die Abendschicht war etwas ganz anderes als meine morgendlichen Backorgien oder das Aushelfen zur Mittagszeit. Allein bei dem Gedanken, jetzt Blinis zu machen, wurden meine Hände schweißnass.
»Mach schon, Helen. Mach deinem Schwager ein paar Blinis.«
»Okay«, ließ ich mich überreden, stand auf und zog erneut meine drapierte Bluse glatt. Eine Schürze über dieses Puffärmelteilwäre ganz gut. Sobald ich nach Hause käme, würde es in der Altkleidersammlungskiste landen. Nachdem ich mir gründlich die Hände gewaschen und mir die Schürze umgebunden hatte, stellte ich mich vor die Edelstahlkochstelle. Zum Glück war es Montag und nur Philippe hatte Dienst. Als Erstes wusch ich die Auberginen, dann schnitt ich sie in dünne Scheiben und briet sie in der Pfanne an. Dann schälte und kochte ich ein paar Kartoffeln der Sorte Yukon Gold, die die zubereitete Creme besser aufnimmt als jede andere Kartoffel, und drückte sie durch die Kartoffelpresse. Ich rührte das Mehl und die Crème fraîche unter, gab ein Ei dazu und rührte das Ganze dann zu einer homogenen Masse. Anschließend schmeckte ich noch mit Salz und Pfeffer ab, gab dann ich die Masse löffelweise in die heiße Pfanne und briet sie goldgelb. Kurz vor dem Anrichten gab ich noch etwas gegrillte Paprika und einen Klecks Auberginenkaviar obendrauf.
In der nächsten halben Stunde tranken wir eine Flasche Wein leer, aßen die Blinis und schwelgten in Erinnerungen. Seit langer Zeit war ich endlich wieder einmal glücklich. Ich fühlte mich in unserem kleinen Kreis pudelwohl, plauderte angeregt mit meiner Schwester und meinem Schwager, schmiegte mich an Tim und war überglücklich in dem Bewusstsein, dass wir schon bald nach China unterwegs sein würden.
Später trug Philippe dann den zweiten Gang auf, eine Tarte aus einer alten Tomatensorte an einer N
icoise
-Oliventapanade und gemischter Babysalat mit Basilikumvinaigrette. Dann gab es als Zwischengang Süßkartoffel-A
gnolotti
mit Salbeicreme, gebräunter Butter und Prosciutto, gefolgt von der Hauptspeise: in Butter geschwenkter Maine-Hummer mit Lauch, Pommes und Rote-Beete-Essenz. Wir aßen, bis wir uns alle irgendwann in unsere Stühle zurücklehnten und unseren Wanst hielten.
Während wir dann unser Essen sacken ließen, erhob sich Tim schließlich schwerfällig und ging in sein Büro. Ein paar Minuten später kehrte er mit einem Packen Papiere in der Hand zuuns zurück. Seine Augen strahlten, ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. In all den Jahren, die wir uns kannten, hatte ich solch einen verzückten Ausdruck noch nie bei ihm gesehen: eine Mischung aus Freude, Jubel und ungläubigem Staunen.
»Was hast du denn da?«, fragte ich ihn.
»Es ist da«, gab er zur Antwort.
»Was denn?«
»Die Zusage von der Adoptionsvermittlung«, grinste er breit. »Sie haben es vor wenigen Minuten per E-Mail an uns geschickt.«
Mein Herz befand sich in freiem
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