Töchter auf Zeit
wir unser eigen Fleisch und Blut eines Tages so nennen würden. Erst heute, als ich das Foto von diesem kleinen Mädchen gesehen habe, ist mir so richtig bewusst geworden, dass das unsere Tochter ist.«
Philippe brachte uns noch mehr Champagner und wir stießen auf unser Glück an. Wir lachten und grinsten, bis uns die Wangen wehtaten.
Nachdem wir uns von Claire und Ross verabschiedet hatten, fuhren Tim und ich nach Hause. Wir waren beide so aufgeregt,dass wir in Schweigen versanken. Zu hören waren nur das sanfte Schnurren des Motors und gelegentlich ein Poltern, wenn wir über eine Schlagloch fuhren. Zwischen uns breitete sich eine Ruhe aus, aber es baute sich auch eine gewisse Peinlichkeit und Spannung auf, was mich an unsere erste Verabredung erinnerte.
Wir fanden jetzt keine Worte, die über ein »O mein Gott«, »Ich kann es noch gar nicht glauben« und ein »Unser Traum wird wirklich wahr« hinausgingen. In all den Monaten hatte ich versucht, auf Distanz zu gehen, sollte die Adoption nicht bewilligt werden. Und jetzt hatten wir die Zusage. Nun lag es an uns. Und meine Gefühle überschwemmten mich, als wären sie glitschig, nicht zu fassen.
Tim bog in unser Viertel ab und dann in unsere Einfahrt, wo er den automatischen Garagentoröffner betätigte. Unsere Garage war so klein, dass wir immer Witze darüber rissen. »Bauch einziehen und nicht mehr atmen!«, war unser Standardspruch, immer wenn wir uns durch die 25 Zentimeter weit geöffnete Autotür quetschten. Mehr war nicht drin, sonst würde die Tür an die Wand stoßen. Tim und ich betraten unser Haus und verharrten einen Moment im Dunkeln. Tim legte seine Arme um mich und ich schmiegte mich an ihn und ließ meinen Kopf schwer an seinem Brustkorb ruhen. Ich konnte spüren, dass unsere Herzen im Gleichtakt schlugen.
»Unser Traum wird wirklich wahr, ja?«, fragte ich.
»Unser Traum wird wirklich wahr«, sagte Tim. »Einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.«
Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich auf den Rand der Couch. Tim kam kurz danach mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern in der Hand zurück. Er schenkte den Wein ein, zündete im ganzen Raum die Kerzen an und schaltete die Stereoanlage ein. Die Cranberries waren jetzt genau die richtige Musik.
Tim drückte mir ein Glas in die Hand. Ich nahm einen Schluck und genoss den erdigen Geschmack von Leder,getrockneten Kirschen und Süßholz. Ich lehnte mich zurück, bettete den Kopf in ein Kissen und starrte an die Decke.
»Worüber denkst du nach?«, fragte mich Tim.
»Ich denke an Sam. An ihr erstes Lebensjahr. Wie sie es ohne uns überstanden haben mag.« Ich überlegte, was wir gemacht hatten, während ihre Mutter schwanger mit ihr war: Die Sozialarbeiterin, Elle Reese, hatte zu dieser Zeit unser Haus auf Kindertauglichkeit inspiziert; als Sam gerade auf die Welt kam, schickten wir den Adoptionsantrag nach China; als sie in ihrem Bettchen lag und an die Decke stierte – Tag für Tag – taten Tim und ich genau das Gleiche und fragten uns, wie es wohl wäre, Eltern eines kleinen Mädchens zu werden.
Tim nahm einen Schluck Wein und sah mich an. »Hoffentlich steht sie auf Football. Ich brauche jemanden, der sich mit mir die Spiele der Redskins anschaut.«
»Ich hoffe, sie ist richtig
pummelig«, sagte ich und dachte an
Maura. Kurz nach ihrer Geburt hatte sie geradezu feiste Beinchen und Ärmchen gehabt. »Sie soll aussehen wie ein fetter Truthahn mit jeder Menge Speckröllchen und Grübchen.«
»Ich bringe ihr das Kochen bei«, sagte Tim. »Gleich morgen kaufe ich eine Schürze und eine Kochmütze für sie.«
»Und ich zeige ihr das Backen«, sagte ich und fragte mich zugleich, ob Kinder großziehen irgendwelche Gemeinsamkeiten mit Backen aufwies. Ich dachte an ein einfaches Rezept mit höchstens sechs Zutaten. Zunächst verrührt man die trockenen Zutaten: eine Riesenportion Liebe, Verständnis und Einfühlungsvermögen. In einem anderen Gefäß rührt man die feuchten Zutaten an: Geduld, Toleranz und Versöhnlichkeit. Nun beides miteinander vermengen, bis sich die Masse so behaglich anfühlt wie die Arme einer Mutter. Masse in die Backform geben. Backen – vermutlich ein Leben lang.
»Na ja, Hauptsache, sie ist gesund«, meinte Tim in leicht bekümmertem Tonfall. »Alles andere ist egal.«
»Hauptsache, sie mag uns.«
Tim küsste mich und mir wurde ganz flau. Er zog mir meine Klamotten aus, und dann hatten wir Sex. Zum ersten Mal seit Jahren schlief ich mit meinem Mann, ohne
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