Töchter auf Zeit
schiefgehen?«
Claire wollte schon etwas dagegensetzen, doch dann schluckte sie ihre Antwort hinunter. Am Hochzeitstag vor Zeugen miteinander zu streiten, war vielleicht keine so gute Idee. Außerdem kannten wir Claires Aufzählung, was alles passieren könnte, nur zu gut: Maura könnte vom Sofa oder vom Barhocker fallen, an einer Brezel ersticken, ertrinken, sich unsicher, verlassen, verletzlich fühlen oder Angst bekommen. Sie könnte sich so fühlen, wie es Claire und mir so oft nach dem Tod unserer Mutter ergangen war.
»Ich muss mal an die frische Luft.« Ross stand auf und ging durch die Hintertür auf die Straße.
Ich sah Tim an, der mich mitfühlend anlächelte. Ich biss in ein Stück knuspriger Focaccia und ließ das Meersalz und den Rosmarin auf meiner Zunge schmelzen.
Claire klappte ihr Handy zu, nahm einen großen Schluck Champagner und entspannte sich endlich.
»Ihr geht’s gut. Sie ist ganz schnell eingeschlafen.«
Ich sah Maura förmlich vor mir, wie sie an ihrem Schnuller nuckelte, den sie nur noch zum Einschlafen brauchte und densie ab und zu herauszog und prüfend ansah, so wie das Großväter mit ihrer Pfeife tun.
»Du glaubst, du müsstest dir Sorgen machen …«, sagte Tim in seiner unbekümmerten Art zu Claire. »Dann warte mal ab, bis sie in die Pubertät kommt.« Er grinste sie an. Armer Tim. Er versuchte doch nur, Konversation zu machen und Verständnis zu zeigen.
»Hör mir bloß damit auf«, sagte Claire, während sich ihre Schultern merklich verkrampften. »Außerdem habe ich auf dem Gebiet ja schon Erfahrung.« Claire sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Na prima«, lachte ich. »Dann wollen wir doch mal hören, wie unverbesserlich ich damals war und dass ich ohne dich in der Gosse gelandet wäre.«
Claire beließ es zum Glück bei einem vielsagenden »Hm«.
»Wir alle haben als Teenager die verrücktesten Dinge getan«, machte Tim den Anfang. »Meine Kumpel und ich haben meinem Dad öfter eine Flasche Schnaps – aus der Hausbar, wenn ich mich recht entsinne, und zwar immer die mit der dicksten Staubschicht obendrauf – stibitzt. Wir füllten ihn in eine Colaflasche um und sind dann auf der Suche nach Mädels, die wir aufreißen konnten, durch die Gegend gefahren.«
»Hattet ihr mit der Tour Erfolg?«, wollte ich von Tim wissen, kuschelte mich an ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Na klar, die Mädels haben Schlange gestanden. Sie wussten, dass ich allein schon wegen des Oldtimers und der Flasche Schnaps ein cooler Typ sein musste.«
»Wir alle haben uns damals leichtsinnig verhalten«, pflichtete Claire ihm bei.
»Das kann ich mir in deinem Fall wirklich nicht vorstellen«, lachte ich. »Und wenn, dann bestimmt nur in den fünf Minuten Pause zwischen Mathe und Physik.«
»Stimmt schon«, gab Claire zurück. »Eigentlich war ich vollauf damit beschäftigt, auf dich aufzupassen, in die Schule zu gehen und den Haushalt zu schmeißen.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich mit einem Seufzer. »Ich verdanke dir mein Leben, Claire. Dafür hast du was gut bei mir, egal, was es ist. Meine Niere? Oder meine Leber?«
»Das kann man nie wissen, vielleicht kommst du ja mal in die Situation und musst mein Leben retten.«
»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.«
Claire hatte die Highschool bereits abgeschlossen, noch bevor ich sie besuchte. Trotzdem spürte ich an allen Ecken und Enden, welchen Ruf sie als Schülerin genossen hatte. Sie war so präsent wie die Poster, die in den Gängen hingen und die Schüler anfeuerten.
Go Team!
Claire war in jedem Fach Klassenbeste, Schülersprecherin und ein beliebter Cheerleader gewesen. Ich hatte zwar auch ganz gute Noten, aber was die restliche Beurteilung anbelangte, war Claire mir haushoch überlegen.
Alle Lehrer – ohne eine einzige Ausnahme – gerieten ins Schwärmen, wenn die Sprache auf Claire kam: Führungspersönlichkeit! Hat eine bombastische Zukunft vor sich! Für sie gibt es keine Grenzen! Mit so einer Überfliegerin wollte ich wahrlich nicht konkurrieren, da war es doch wesentlich einfacher, die Schwester in dem schwarzen Van-Halen-T-Shirt zu sein, die immer bei den Rauchern stand, die ihre Unterschrift auf der Entschuldigung fälschte, blaumachte und sich gern von den älteren Schülern nach Hause fahren ließ. Claire wurde des Öfteren ins Büro des Direktors gerufen, da ich mich mal wieder danebenbenommen hatte. Ich saß dann immer auf einem unbequemen Plastikstuhl draußen vor
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