Töchter auf Zeit
zu trösten. Dann drehte sich die Direktorin auf dem Absatz um und bedeutete uns, ihr zu folgen. Sie ließ das Neugeborene ungerührt weiterschreien, und nicht nur dieses, sondern auch viele andere, schon etwas ältere Babys mussten sich selbst Trost spenden und unterhalten. Ganz allein auf sich gestellt, Tag für Tag.
Als wir um die Ecke gebogen waren, wies die Direktorin auf einen großen Raum mit einem Fenster zum Flur. »Schwer vermittelbare Kinder«, lautete ihr Kommentar. Eine Handvoll Kinder saßen auf einer Bank und stierten ins Leere. Andere waren offenbar nicht zu bändigen, denn sie pressten ihre Gesichter gegen die Scheibe und klopften gegen das Glas, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Anderen sah man ihre geistige Behinderung an. Ein Kind litt offensichtlich an einer Hauterkrankung, denn seine beigebraune Hautfarbe war mit weißen Sprenkeln übersät – vermutlich eine Pigmentstörung. Ein paar Kinder hatten eine Hasenscharte, einem fehlte ein Arm. Und dann war da noch ein wunderhübsches Kleinkind, vielleicht drei Jahre alt.
»Oh mein Gott«, entfuhr es mir. Ich sah mich nach Tim um, der Sam jetzt enger an sich drückte als noch vor einer Minute. Sein Gesicht war puterrot, seine Augen traten leicht hervor, und die einzige Regung, die er zustande brachte, war ein Nicken. Wir standen etwa eine Minute vor dem Fenster und ich konnte meine Augen nicht von dem kleinen Mädchen abwenden. Es war schon schwer genug, die Tatsache zu verdauen, dass die meisten dieser Kinder niemals das Glück haben würden, in einer Familie aufzuwachsen, aber ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, weshalb diese kleine Schönheit als schwer vermittelbar galt. War sie das Baby Nummer hundertundeins, und es gab nur hundert Adoptiveltern? War eine Adoption ein Glücksspiel, eine Art Baby-Mahjong? Wurde das Schicksal eines kleinen Mädchens ebenso vom Zufall bestimmt wie der Spruch in einem Glückskeks? Aus welchem Grund musste dieses arme Kind in einem Waisenheim groß werden und würde später einmal an ein Arbeitslager verkauft, wenn sie doch genauso gut zu einer liebevollen Familie in Amerika kommen könnte? Im Fall von Sam hatte es ja auch geklappt. Ich hob den Arm und strich sanft über Sams Rücken, als wollte ich ihr versichern, dass mir schon klar war, dass es für uns ein kleines Wunder bedeutete, sie in unseren Armen zu halten. Und wieder verspürte ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich daran dachte, wie viel Zeit und Geld ich vergeudet hatte, weil ich unbedingt ein eigenes, ein leibliches Kind haben wollte, während hier Tausende von Kindern auf eine Familie warteten.
Die Mitarbeiter des Waisenheims hatten ein Mittagessen für uns vorbereitet. Tim war tapfer und probierte marinierte Entenzunge, süßsaure Hühnerfüße und gepökelten Vogelmagen. Der Rest von uns begnügte sich mit schmackhaft gewürztem Schweinefleisch mit Reis und einer Hühner-Maissuppe.
»Wie oft kommen die Babys aus ihren Bettchen?«, fragte ich und ließ meine Stimme so lieblich klingen, wie ich nur konnte, denn meine Frage sollte ganz harmlos wirken.
»Einmal am Tag«, antwortete die Direktorin. »Sie werden in ihrem Bett gefüttert und spielen dort auch. Aber einmal am Tag nehmen die Pflegerinnen sie heraus.«
Ich warf einen Blick auf Sam, die zum ersten Mal glücklich und zufrieden auf meinem Schoß saß, und schob ihr einen weiteren Löffel mit Rührei in den Mund. Ich konnte nicht anders und flüsterte in ihr Ohr: »Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst, mein Kleines. Ich bin immer für dich da.«
Nach dem Essen fotografierten wir das Gebäude, die Babys, die die Chance auf eine Adoption hatten, und die unglückseligen Kleinkinder, die wohl noch Jahre hier ausharren mussten. Und natürlich machten wir auch eine Aufnahme von der Straße, die zum Waisenheim führte und auf der so viele Neugeborene ausgesetzt wurden.
Stunden später befanden wir uns wieder im Holiday Inn. Sam war eingeschlafen, als wir in unsere Zimmer gingen. Tim und ich – erschöpft und leicht benommen von den Abgasen – nutzten die Gelegenheit und legten uns auch hin. Als wir zwei Stunden später aufwachten, war es schon zehn Uhr abends. Sam saß neben uns, sah uns kurz mit großen Augen an und spielte dann vergnügt mit ihren Zehen – im Waisenheim war ihr das nicht möglich gewesen, da ihre Füße immer fest eingepackt gewesen waren.
Wir fütterten Sam, aßen selbst noch eine Kleinigkeit und ließen uns vom Fernseher berieseln. Wir hatten schon
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