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Töchter auf Zeit

Töchter auf Zeit

Titel: Töchter auf Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Handford
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Empfangsdame mit meinen Blicken hypnotisieren wollte, damit sie endlich unseren Namen aufrief, war mir, als würde die Zeit davonrasen. Doch ebenso gut hätte sie auch stillstehen können. Oder beides zugleich. Vielleicht erlebte ich aber auch so etwas wie ein Déjà-vu – obwohl Tim und ich noch nie in so einer Situation waren. In all den Monaten des Wartens, die mit der Übergabe von Sam geendet hatten, saß ich in Sams leerem Kinderzimmer und stellte mir vor, wie ich sie mir in die Arme legen würde, ihren Atem an meinem Hals spüren könnte undwie sie ihre kleinen Ärmchen fest um mich geschlungen hätte. Und genau so war es jetzt, sie klammerte sich auf eine Weise an mich, nach der ich mich in all den Jahren gesehnt hatte. Sie hing wie ein Klammeräffchen an mir, als ob ich der einzige Mensch auf dieser Welt wäre, der ihr helfen könnte.
    Noch ein Déjà-vu: Gut 10 000 Kilometer von meinem Zuhause entfernt wurde mir klar, dass alle Krankenhäuser gleich rochen.
    Ich sah mich in der Notaufnahme um. Auf der ganzen Welt gibt es Notfälle. Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein Kleinkind mit einer äußerst schmerzhaften Mittelohrentzündung, ein Kind mit einer Murmel in der Nase, ein erwachsener Mann mit Brustschmerzen oder ein Kind, das anscheinend testen möchte, wie belastbar seine frischgebackenen Eltern sind, ärztliche Hilfe suchen.
    Ein ganzes Jahr lang hatte meine Mutter immer wieder im Krankenhaus gelegen. Die Abteilung für Onkologie befand sich im dritten Stock des Klinikums in einem separaten, ruhigen Bereich. Dort hatte sie Wochen ihres Lebens verbracht. Die Angehörigen schlichen in die Zimmer und wieder hinaus, trippelten im Gang auf Zehenspitzen, in der Hand die obligatorischen Blumen, Bücher und Luftballons. Es war ein einziges Kommen und Gehen, auch der Schwestern und Ärzte, die, den Kopf gesenkt, etwas auf die Krankenakte kritzelten. Die ganze Station kam mir dunkel und grau vor, und wenn ich nach Luft schnappte, war mir, als versuchte ich, durch einen übergestülpten Plastikbeutel zu atmen. Ich weiß noch ganz genau, wie rastlos ich damals war. Ich wollte alle Fenster und Vorhänge aufreißen und mir auf meinem Walkman Stücke wie »Don’t Worry, Be Happy« von Bobby McFerrin anhören. Ich malte mir aus, wie meine Mutter und die anderen Patienten beim Klang der ersten Töne dieses Songs auf die Füße springen und im Kreis tanzen würden, als wären sie nur versehentlich hier und könnten jetzt gesund nach Hause gehen.
    Alles stand und fiel mit den Schwestern. Sie arbeiteten rund um die Uhr, maßen die Vitalzeichen, sahen nach, ob Mom auch bequem lag, und drückten mir eine Cola in die Hand, die sie aus dem Schwesternzimmern stibitzt hatten. Schwester Tammy hatte immer ein paar Minischokoriegel in der Tasche. Immer wenn sie mich auf der Kante von Moms Bett sitzen saß, gab sie mir welche. Manchmal durfte ich sogar ihr Stethoskop benutzen, ganz einfach um die Zeit totzuschlagen. Andauernd mussten Patienten und Angehörige auf etwas warten – auf den Doktor, die nächste Mahlzeit oder die nächste Chemotherapie. Warten, bis es endlich vorbei war – auf die eine oder andere Weise.
    Dr. Sam Goldberg, der behandelnde Arzt meiner Mutter, schaute zweimal am Tag bei ihr vorbei, vormittags und nachmittags. In seinen Augen las ich die reine Güte und Menschlichkeit. Er war so fantastisch im Umgang mit ihr, dass ich mich mitunter fragte, ob er sich in sie verknallt hatte. Er saß am Rand ihres Bettes, legte seine Hand auf ihre und sprach mit ihr über die Behandlungsformen, die noch möglich waren, und empfahl ihr bestimmte Therapien. Mom war eine angenehme Patientin, die zu allem Ja und Amen sagte. Sie hatte ihr Schicksal als unabänderlich akzeptiert, und jeder Kampf dagegen war in ihren Augen ein ebenso sinnloses Unterfangen wie das Ansinnen, Berge zu versetzen. Er machte ihr trotzdem Hoffnung. Mom nickte, lächelte ihn an und meinte dann, sie wisse, dass er sein Bestes geben würde und sie in guten Händen wäre.
Sei doch still, Mom, lass ihn ausreden, lass ihn jede denkbare Option erklären.
    Ich war damals eine ziemlich biestige Göre mit meinen dreizehn Jahren, die ihrer Umwelt mit ihrem Gezicke und ihrem Selbstmitleid ganz schön auf die Nerven gegangen sein muss. Claire hatte sich so sehr mit Moms Therapieform auseinandergesetzt, dass sie locker aus dem Stegreif einen Vortrag über die Bedeutung jedes einzelnen Bluttests und Moms Blutbild hätte halten können. Sie wäre in der Lage

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