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Töchter auf Zeit

Töchter auf Zeit

Titel: Töchter auf Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Handford
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uns. Bei manchen von ihnenwar diese höllische Achterbahnfahrt wirksamer, als wenn wir sie am Abend in den Schlaf wiegen wollten. Auch Sam gehörte zu dieser Sorte von Baby. Wir kamen an zahllosen Reisfeldern vorbei, fuhren am Ufer des Yangtse-Flusses entlang, sahen blühenden Lotus und Wasserlilien, bis wir den Fluss dann auf einer Fähre überquerten.
    Stunden später waren wir endlich an unserem Ziel, dem
Children’s Welfare Institute
, angekommen. Sam schlief fest und wachte auch nicht auf, als Tim sie sich über die Schulter legte und aus dem Bus stieg. Das war mir sehr recht, denn Sam hatte diesen Ort ja erst vor Kurzem verlassen, war in unser Leben getreten und konnte bestimmt nicht einordnen, ob sie nun wieder hierbleiben müsste oder nicht. Wir gaben wirklich unsere Bestes, um diese armen Kinder zu verwirren.
    Das Gebäude war ein nüchterner Block aus weißem Beton. Es hätte ebenso gut ein Gefängnis, ein Amt oder ein Lager sein können. Mir wurde heiß und kalt, als mir klar wurde, dass es im Grunde genommen ja alles drei war. Frau Lu, die Direktorin, eine verhärmt wirkende Frau mittleren Alters, nahm uns im Empfang. Wir kannten sie ja bereits von der Übergabe der Babys vor wenigen Tagen.
    »Folgen Sie mir«, sagte sie und führte uns durch den Betonflur. Dann deutete sie in einen Raum, der bis auf ein paar wenige Spielsachen leer war: »Das Spielzimmer.« Dann zeigte sie in ein weiteres Zimmer mit ein paar Töpfen und Teekesseln, neben der Spüle standen hübsch aufgereiht Babyfläschchen aus Glas: »Die Küche.«
    An einer Wand stand eine Bank, die in eine Sammeltöpfchenstelle für die Babys umfunktioniert worden war. Man hatte einfach Löcher in die Sitzfläche gesägt und Porzellantöpfe darunter befestigt. Die Kleinkinder trugen Höschen, die im Bedarfsfall nicht ausgezogen, sondern nur zur Seite geschoben werdenmussten. Mitten im Raum stand ein Kohleofen, anscheinend die einzige Wärmequelle.
    Wir setzten unseren Rundgang fort und hefteten uns an die Fersen der Direktorin. Kurze Zeit später stieß sie mit der Hand eine Doppeltür auf, die in einen großen offenen Raum mit vielen Betonzwischenwänden und Gängen führte.
    »Der Schlafsaal«, sagte sie.
    Dort standen zwei Reihen mit mindestens einem Dutzend Kinderbetten. In jedem davon lagen vier Babys auf dem Rücken, die alle fest in ein Stepptuch eingewickelt waren. Oben schauten die Ärmchen heraus, die so eng an ihrem Kopf lagen, dass es wie ein Heiligenschein wirkte. Ob das ein Hilfeschrei war? Über jedem dieser Viererpacks Babys lag eine weitere Decke, die mit einem elastischen Band festgezurrt worden war. Ich sah zur Decke, weil mich interessierte, was diese Kleinen den ganzen Tag lang sahen. Nichts, da war nur eine kahle Decke mit ein paar Rissen und Wasserflecken, die eine Art Weg bildeten, der ins Nichts führte. Ich sah mich weiter um, nahm erneut die Perspektive dieser Babys ein. Keine pastellfarbenen Figuren aus irgendwelchen Kinderliedern oder Märchen, kein Mobile mit Tieren. Nichts, wonach sie greifen könnten. Nichts, was sie haben wollten.
    »Brandneu«, meinte die Direktorin und deutete auf das winzigste Baby, das ich je in meinem Leben gesehen hatte. Vermutlich wog sie keine vier Pfund. Doch ihr lautes Gebrüll war das einer sehr, sehr wütenden Riesin. Ihr kleines Gesicht war purpurrot, und ihre zu Fäusten geballten Händchen schlugen durch die Luft wie ein Meteoritenschauer.
    »Ein Neugeborenes!«, verbesserte eine der Pflegerinnen die Direktorin.
    »Heute früh gekommen«, erklärte sie noch.
    In der Zeit, in der Tim und ich geduscht, Sam mit Reisbrei und Schweinefleisch gefüttert und ihr das obligatorischeFläschchen gegeben, selbst gefrühstückt hatten und in den Bus gestiegen waren, hatte ein Baby das Licht der Welt erblickt. Geboren. Ausgesetzt. Gefunden. Aufgenommen. All das in nur wenigen Stunden. Es war mir nicht entgangen, dass Sam auf den heutigen Tag genau vor einem Jahr ein ähnliches Schicksal ereilt hatte.
    »Sie möchte auf den Arm genommen werden«, sagte ich in dem Wissen, dass ich mich damit weit aus dem Fenster lehnte. Max hatte uns eingeschärft, zu allen freundlich zu sein, alles über den grünen Klee zu loben und nur ja nichts zu kritisieren. Doch das war mir herzlich egal. Am ersten Tag auf dieser Welt musste dieses Baby doch hochgenommen werden! »Darf ich?«
    »Nein, nein«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Dann will sie das immer.« Als ob es zu viel des Guten wäre, ein Neugeborenes

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