Töchter auf Zeit
dann ließ ich es bleiben. Ich wollte sie nicht damit belasten. Doch es fiel mir sehr schwer, ausgerechnet ihr vorzuenthalten, dass sie ihr Instinkt nicht getrogen hatte. Wenn die eigene Mutter stirbt, ist eine Schwester überlebensnotwendig. Zumindest war das bei mir so gewesen.
»Wie schaffst du das bloß, dass du …«, ich suchte nach dem richtigen Wort, »… so positiv bist. Du wirkst so gefasst.«
»Das ist nun mal meine neue Realität«, tat sie meine Frage mit einem Schulterzucken ab. »Ich habe festgestellt, dass man sich sehr schnell an neue Gegebenheiten anpasst. Und was soll ich sagen, ich bin hier in China. Und so lange ich lebe, ist es mein Job, mich um meine Mädels zu kümmern. So einfach ist das.«
Während ich mir vorstellte, wie ihre zwei Töchter alleine ohne ihre Mutter aufwachsen mussten, schweiften meine Gedanken ab. Ich musste an Claire denken, wie sie mir am Tag der Beerdigung unserer Mutter einen Pferdeschwanz band und meine hochroten Wangen mit einem kalten feuchten Waschlappen zu kühlen versuchte. Larry saß derweil auf der Bettkante und hatte sein Gesicht auf seine Hände gestützt. »Sie hat dich sehr geliebt«, hatte Claire mir wieder und wieder gesagt, und vergessen waren all die Monate, in denen ich mich mies benommen hatte, weil ich völlig überfordert und durch den Wind war. »Und sie wusste, dass du sie auch von Herzen liebst.«
»Sieht so aus, als hättest du es geschafft«, unterbrach Amy meine Gedanken und deutete auf Sam, die in meinen Arm gekuschelt tief und fest schlief.
KAPITEL 15
An unserem zehnten Tag mit Sam wachte sie mitten in der Nacht auf, weil sie heftig husten musste. Es hörte sich schleimig an und schien ganz tief aus ihrer Lunge zu kommen. Ihr Husten klang, als würde Kaffee durch den Filter in die Kanne tropfen. Ihr Gesicht war krebsrot und die Tränen strömten ihre Wangen hinab. Ihre Hände und Füßchen glühten. Ich nahm sie hoch, legte sie mir über die Schulter und klopfte ihr sanft auf den Rücken, wo ich spürte, wie ihr Atem rasselte.
»Lass uns Max holen«, schlug Tim vor.
»Meinst du wirklich?«, erwiderte ich. »Wäre es nicht besser, Amy um Rat zu fragen? Sie weiß doch bestimmt, was man in so einem Fall machen muss.«
Amy kam sofort zu uns rüber und hörte sich Sam an. »Ich würde nicht lange fackeln und sie in ein Krankenhaus bringen. Das hört sich nicht wirklich gut an. Ich tippe auf Lungenentzündung.«
»Okay«, brachten wir gerade noch heraus und liefen vor lauter Panik wie ein Zoo-Tiger im Kreis herum.
»Nehmt alle Medikamente mit, die ihr dabeihabt«, riet uns Amy. »Das Antibiotikum, das Tylenol für Kinder, was auch immer. Nur für den Fall …«
Claire und ihr Kinderarzt hatten einen Erste-Hilfe-Kasten für mich zusammengestellt. Heute Nacht war ich sehr froh darüber, so etwas dabeizuhaben.
In der Schwärze der Nacht verfrachtete uns Max in ein Taxi und ab ging es über holpriges, regennasses Kopfsteinpflaster in ein Krankenhaus, das rund um die Uhr geöffnet hatte. Es lag am Ende einer Straße, um nicht zu sagen einer Gasse, neben einem Videoverleih und einem Lebensmittelgeschäft. Ich hatte schondamit gerechnet, dass die Kliniken in China nicht so modern und gut beleuchtet wie in Amerika waren, aber der Anblick übertraf meine schlimmsten Befürchtungen. Wären wir nicht besser im Hotel geblieben?
»Tim?«, fragte ich nervös.
»Alles wird gut«, versicherte er mir und half mir und Sam beim Aussteigen. Max lief vor uns, sprach mit der Frau am Empfang, schob ein paar Geldscheine über den Tresen und erhielt einen Zettel mit mehreren Symbolen darauf. Vielleicht eine Wartenummer, wie man sie von der Führerscheinstelle kennt. Der Wartebereich der Notaufnahme war brechend voll. Jeder Stuhl besetzt. Mütter gingen mit ihren schreienden, hustenden und wimmernden Babys auf und ab. Großmütter warfen uns missbilligende Blicke zu: Sam war nicht so eingeschnürt, wie es hier Tradition war, was in ihren Augen nichts anderes bedeutete, als dass ich mein Baby vernachlässigte.
Max versicherte uns, dass man so bald wie möglich nach Sam sehen würde.
Ich lehnte mich an die Wand, hielt Sam eng an meinen Oberkörper gedrückt und schaukelte sie hin und her. Ich vergrub meine Nase in ihre glänzenden rappelkurzen Haare und konnte noch das Apfelshampoo riechen, mit dem wir ihr Haar am Abend zuvor gewaschen hatten. Sie schmiegte sich an mich, döste weg und wurde dann durch einem heftigen Hustenanfall aufgeweckt. Als ich die
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