Töchter auf Zeit
gemerkt, dass es keine so gute Idee war, Sam am Morgen so lange schlafen zu lassen, wie sie wollte, da es dann abends unmöglich war, sie zu einer vernünftigen Zeit ins Bett zu legen. Wir trugen sie durchs ganze Hotel spazieren, und um halb elf, als Sam noch immer putzmunter war, gesellte ich mich zu den anderen Adoptiveltern, die in der Lobby saßen. Sie alle sahen müde und erschöpft aus und hatten sich zusammengesetzt, während sie zugleich versuchten, ihre Babys in den Schlaf zu wiegen. Ichfreute mich, Amy zu sehen, die an der Wand lehnte und Maria in ihren Armen hielt. Um ein Uhr morgens waren nur noch sie und ich da, die anderen Babys waren entweder eingeschlafen, oder die Eltern versuchten ihr Glück in ihren Zimmern. Sam war kurz davor, wegzudösen, wie mir ihr heftiges Strampeln und ohrenbetäubendes Geschrei verrieten. Damit wollte sie mir wohl klarmachen, wer von uns der Boss ist. In den meisten Fällen schlief sie nach diesem letzten kräftezehrenden Geschrei ein. Während ich Sam in meinen Armen wiegte, hüpfte Amy mit Maria auf und ab. Meine neue Freundin beeindruckte mich damit, wie cool sie war und wie leicht es ihr fiel, Mutter zu sein, ganz so wie Claire. Am Abend zuvor waren wir ebenfalls mit unseren Babys auf dem Schoß in der Halle gesessen. Amy hatte immer wieder einen Ball für ihre vierjährige Angela den Gang hinuntergeworfen und das Kind brachte ihn seiner Mutter mit nicht nachlassender Begeisterung zurück. Ich kam mittlerweile einigermaßen mit Sam zurecht, musste jedoch noch viel lernen, aber Amy war ein Naturtalent. Allein, wie sie mit nur einer Hand die Milchpulverpackung öffnete, die richtige Menge in das Fläschchen gab, die Thermoskanne aufschraubte, das heiße Wasser dazuschüttete und dann noch den Sauger durch den Ring schob – das war mehr als beeindruckend!
Kurz nach Mitternacht hatte ich es langsam satt, mich nur über Windeln, wunde Babypopos, Zahnen und Töpfchengehen zu unterhalten.
»Mir gefällt dein Haarschnitt«, meinte ich zu Amys Kurzhaarfrisur. Ihre wuschelige Igelfrisur löste bei mir das Bedürfnis aus, ihr die Haare zu zerzausen, sodass sie nach allen Ecken und Enden abstanden. »Schade, dass mir so kurze Haare nicht stehen«, fügte ich hinzu und spielte mit einer meiner Locken.
»Unsinn!«, schüttelte Amy den Kopf. »Aber ich empfehle dir zunächst sechs Wochen Chemo.«
»Oh mein Gott«, entschuldigte ich mich sofort. »Ich bin ja so ein Vollidiot! Es tut mir ja so leid.«
»Nein, nein, kein Problem. Es ist vorbei.«
»Geht es dir wieder gut?«, fragte ich nach, weil mir nichts Besseres einfiel.
»Die Ärzte sagen Ja, aber, glaub mir, wer Krebs hat, der ist nie wieder ganz gesund.«
»Wann war das?«
»Erst vor Kurzem. Meine letzte Chemo ist gerade mal sechs Wochen her. Dieses Haar ist gerade erst nachgewachsen. Ich wusste nicht, ob ich die Reise überhaupt würde antreten können. Tommy hat sich schon damit abgefunden, dass er alleine herfliegen muss.«
»Was für ein Krebs war es denn?«, fragte ich sie, denn Amy schien meine Fragerei nichts auszumachen.
»Brustkrebs. War ja klar. In meiner Familie ist Brustkrebs so häufig wie braune Augen.«
Familiengeschichte. Auch Claire und ich hatten wegen Moms Eierstockkrebs ein erhöhtes Risiko, an Krebs zu erkranken. Eierstockkrebs verlief meist tödlich, da er sich ganz lange nicht bemerkbar machte, bis es dann zu spät war.
Amy erzählte mir, dass sie den Knoten beim Duschen ertastet hatte. Und wie sie sofort mit absoluter Sicherheit wusste, dass es Krebs war, denn ihre Schwester hatte das Gleiche bereits durchgemacht.
»Was hat die Adoptionsagentur dazu gesagt? Haben sie sich Sorgen um dich gemacht?«
»Das hätten sie garantiert getan, wenn ich ihnen auch nur ein Sterbenswörtchen davon gesagt hätte. Aber sie wissen nichts.«
»Aber wieso? Glaubst du, sie hätten dir kein zweites Kind gegeben?«
»Ich weiß nicht, was passiert wäre, aber ich wollte unter keinen Umständen ein Risiko eingehen. Ich wollte, dass Angela einSchwesterchen bekommt. Vor allem, nachdem feststand, dass ich Krebs habe. Sollte ich das nicht überleben, was Gott verhüten möge, dann würde sie eine Schwester mehr als alles andere auf der Welt brauchen. Für mich gab es nur ein
Jetzt oder nie
.«
Ich wusste genau, wovon sie sprach. Oh ja, ich wusste es ganz genau. Mir lag es auf der Zunge, ihr mein Herz auszuschütten und ihr von meiner Mom und ihrem Tod zu erzählen, und dass ich Claire mein Leben verdankte, aber
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