Töchter auf Zeit
gewesen, einem kleinenKind zu erklären, weshalb die Chemo nichts brachte, weshalb Bestrahlungen nicht helfen würden und dass es einfach nur noch um das sogenannte Patientenmanagement ging. Selbst mir war klar, dass das nichts anderes als ein Euphemismus dafür war, meiner Mom die restliche Zeit bis zu ihrem Tod so angenehm und schmerzfrei wie möglich zu machen.
Ich kann mich noch erinnern, wie meine Mom immer »Komm, setz dich zu mir« gesagt und auf die Matratze geklopft hatte.
»Lass nur, mir geht’s gut«, lautete meine Standardantwort. Meist ließ ich mich in den harten Stuhl in der Ecke des Zimmers fallen und meine Beine seitlich herunterbaumeln.
»Eine Runde Rommé?« Mit diesen Worten zog sie ein Kartenspiel aus der Nachttischschublade und winkte mich her.
»Keine Lust.«
»Gibt es was Neues in der Schule?«
»Nö.«
»Neues von Lisa? Oder Ellen?« Das waren damals meine besten Freundinnen.
»Sie wollen nichts mehr mit mir zu tun haben«, erwiderte ich. »Sie sagen, es mache keinen Spaß, mit mir herumzuhängen, weil ich dauernd mies drauf bin. Wegen dir, schon klar, oder?« Das war gelogen. Weder Lisa noch Ellen hatten jemals etwas in der Richtung zu mir gesagt. Mir lief es jetzt eiskalt den Rücken herunter, als ich mir bewusst machte, was ich damals getan hatte.
»Ach, mein Liebling«, sagte sie bloß, obwohl sie mir die Wahrheit wohl von der Nasenspitze ablesen konnte. »Ich weiß, dass du traurig bist. Und auch sauer, aber so ist es nun mal. Das gehört zum Leben dazu. Niemand hat Schuld daran – weder ich selbst noch Gott«, verteidigte sie ihre einzige wahre Liebe.
»Ich glaube nicht, dass es Gott gibt«, sagte ich so leise, dass sie es kaum hören konnte. Trotzdem wusste ich ganz genau, dass sie meine Schmähung mitbekommen hatte. Dann sah ichaus dem Fenster zum Parkplatz, setzte die Kopfhörer auf und drehte meine Musik auf. Ich wusste selbst nicht, weshalb ich es Mom so schwer machte. Als hätte sie nicht schon genug Sorgen. Vielleicht dachte ich ja, dass sie härter gegen den Krebs kämpfen würde, wenn sie mitbekäme, dass ich auf sie angewiesen war. Vielleicht könnte das Bild von ihrer Tochter, die keine Freundinnen hatte, der zündende Funke sein, der ihre Genesung in Gang brächte. Vielleicht machte es Claire ihr zu einfach, loszulassen, da sie meiner Mom immer wieder versicherte, dass sie sich zuverlässig um alles kümmern würde. Schon damals schrieb sie ihre To-do-Listen. Mom konnte sich darauf verlassen, dass Claire versuchen würde, sie zu ersetzen, so gut es ging, dass sie mich aufs College schicken und verhindern würde, dass ich in der Gosse landete.
Kämpf doch, Mom! Ich brauche nicht Claire. Ich brauche dich.
Solche Momente im Leben sind einmalig, sie kehren nie wieder zurück. So viel weiß ich mittlerweile. Manchmal stelle ich mir vor, was es für sie bedeutet hätte, wenn ich einfach nur zu ihr ins Bett gekrochen wäre, mich an ihre Brust geworfen und Rotz und Wasser geheult hätte und ihr dann in die Augen geblickt und ihr gesagt hätte, wie sehr ich sie liebte. Doch das habe ich nicht getan, und sie ist gestorben, ohne dass ich ihr meine Liebe jemals versichert hatte. Ich bin mir sicher, dass sie das enorm belastet und verletzt haben muss. Jetzt hatte ich selbst eine Tochter, und obwohl ich sie erst eine Woche bei mir hatte, wäre ich am Boden zerstört, wenn sie mich jemals so behandeln würde wie ich meine Mutter.
»Alles klar für die Ersteinschätzung«, erklärte uns Max. »Jetzt sieht sich zunächst eine Schwester Ihre Tochter an.«
Ich sah direkt in Sams schwarze Augen und legte meine Hand über ihr Porzellangesicht. »Wir gehen jetzt zu der Schwester, okay?« Sam sah mich auch an, hustete mir ins Gesicht und sah dann wieder weg.
In dem mit Vorhängen abgetrennten Abteil, das den Untersuchungsraum darstellen sollte, setzten wir uns auf den Klappstuhl. Dann kam auch schon die Schwester, zog den Vorhang zu und schrieb etwas auf ihren Notizblock. Sie prüfte, ob Sam Fieber hatte, maß nach, wie groß und schwer sie war, und wollte dann von uns wissen: »Was fehlt ihr denn?«
»Sie hat Husten. Und Fieber.«
Max übersetzte meine Antwort ins Chinesische, brauchte aber gefühlte Stunden dafür. Ich fragte mich, ob er Informationen über Sams Gesundheitszustand besaß, die man uns vorenthalten hatte. War sie etwa chronisch krank?
Die Schwester horchte ihren Brustkorb ab und rief den Arzt hinzu. Er horchte Sam ebenfalls ab und ordnete dann eine
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