Töchter auf Zeit
Röntgenuntersuchung an.
»Ihre Lungen sind voller Flüssigkeit«, dolmetschte Max. »Der Doktor will, dass sie über Nacht hierbleibt.«
»Weshalb sind ihre Lungen voller Wasser?«, bohrte ich nach. »War das schon öfter der Fall bei ihr? Stimmt etwas nicht mit ihren Lungen?« Ich fragte mich, ob ihre Lungen überhaupt schon voll entwickelt waren, als sie mit ihren zwei Kilogramm auf die Welt kam.
Max schüttelte den Kopf, der Arzt zuckte mit den Schultern. Keiner der beiden kannte ihre medizinische Vorgeschichte und konnte uns sagen, wie es nun weitergehen sollte. Erkrankte ein Baby im Waisenheim, wurde es zwar behandelt, aber so etwas wie eine Krankenakte gab es dort nicht.
Ich sah Tim erwartungsvoll an, aber auch er zuckte nur mit den Schultern. Gab es nichts anderes zu tun als nur das?
»Können wir diesem Arzt vertrauen? Gibt es eine bessere Lösung?«, wollte ich sogleich von Max wissen.
Max versicherte uns, dass er schon öfter mit Babys hier gewesen und das Krankenhaus zwar nicht so modern war wie die Kliniken in Amerika, aber dass die Ärzte ihr Bestes gaben.
Die Krankenschwester legte Sam an einen Tropf. Sam schrie wie am Spieß. Ich presste mich mit meinem ganzen Gewicht an sie und drehte mein Gesicht weg, weil ich nicht wollte, dass sie sah, wie mir die Tränen in Strömen die Wangen herabliefen. Ich hielt sie fest, während die Schwester erst den Zugang legte und dann die Infusion daran anschloss. Ich flüsterte Sam unzählige Entschuldigungen ins Ohr und schwor ihr, dass es nicht immer so schrecklich für sie laufen würde.
Später, als Sam nicht mehr an die Infusion dachte und sich an die Atemmaske gewöhnt hatte, strampelte und zuckte sie heftig und quengelte vor sich hin, bis sie der Schlaf übermannte. In einer Hand hielt sie noch immer das Stück Stoff, die andere hatte ich mir geschnappt. Ich ließ sie los und bat Tim, nicht von ihrer Seite zu weichen. Dann ging ich in die Lobby und rief Claire an. Ich ließ sie wissen, dass Sam Fieber hatte, Wasser in den Lungen und wie wenig sie bei ihrer Geburt gewogen hatte. Sie schrieb alles mit und rief gleich nach unserem Gespräch ihren Kinderarzt an, der jetzt auch unserer war. Kurz danach rief sie mich zurück, der Arzt wolle die Röntgenaufnahme und den Aufnahmebericht sehen. Ich ging gleich los, denn ich hatte gesehen, dass gegenüber der Klinik ein Kopierladen war, der auch Faxdienste anbot. Ich tippte eine endlose Zahlenkombination in das Faxgerät ein und schickte das Fax los. Eine Stunde später klingelte mein Handy erneut. Claire meinte, der Kinderarzt wäre zu dem Ergebnis gekommen, dass die chinesischen Ärzte nichts anderes täten als das, was auch in Amerika mit Sam gemacht würde. Der Behandlungsplan war gut. Als Claire und ich unser Gespräch beendeten, war es drei Uhr morgens.
Als ich in Sams Zimmer trat, sah ich, dass Tim noch immer Händchen mit Sam hielt, beide aber tief und fest schliefen.
Der gute Max in seiner Levis und der Lederjacke war auch noch da, tippte in sein BlackBerry und kümmerte sich um die Probleme der frischgebackenen Eltern. Er setzte sich zu mir,drückte mir eine Cola aus dem Getränkeautomat in die Hand und sagte: »In China gibt es ein Märchen, in dem geht es um eine bestimmte Wespenart, die kleine Nachtfalterlarven von den Maulbeerbäumen stiehlt und sie dann als eigene Brut großzieht.«
Ich hörte ihm zu und nickte hin und wieder.
»Manchmal nennen wir die Mädchen – die chinesischen Babys, die adoptiert werden – nach diesem Märchen: Kinder der Raubwespe.«
»Wir Eltern sind also Kindesentführer?«
»Nein, nein«, beschwichtigte er mich. »Ihr seid die Retter. Ihr befreit diese Mädchen aus Not und Elend.«
»Lieb von dir, Max«, erwiderte ich. »Aber die meisten von uns – na ja, eigentlich kann ich nur von mir reden – haben keineswegs ein Mädchen adoptiert, weil sie so gute Menschen sind. Wir wollten einfach nur haben, was wir selbst nicht zustande gebracht haben.«
»Das mag schon sein, aber alles im Leben, jede unserer Entscheidungen hat Konsequenzen. Und ich bin überzeugt, dass Eltern, die ein Kind adoptieren, nicht nur ein Kind bekommen, sondern auch Leben retten.«
Mir ging dieses Märchen nicht mehr aus dem Kopf. In gewisser Weise hatte ja jeder von uns etwas ganz Kostbares entführt, gar gestohlen. Sam wurde von heute auf morgen aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen und mir anvertraut, ohne dass sie ein Sterbenswörtchen mitzureden gehabt hätte. Mir wurde meine
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