Töchter auf Zeit
ihren Lungen, das Atmen fiel ihr wieder leichter und sie war auch nicht mehr so blass. Nachdem sie eine ganze Schüssel Reis-Congee verdrückt und sogar noch ein Fläschchen getrunken hatte, wechselte ich ihre Windeln und hielt sie fest in meinen Armen.
»Alles wird wieder gut, meine Kleine«, flüsterte ich in ihr Ohr. »Du wirst ein großes, starkes Mädchen, mach dir keine Sorgen.«
»Sieh mal, was ich hier gefunden habe«, rief mir Tim zu und hielt ein gelbes Taschenbuch hoch, das er in einem Abfalleimer in der Lobby gefunden hatte.
Curious George Goes to the Hospital
– auf Englisch! Tim schob seinen Stuhl neben mich und begann vorzulesen. Wir beide kannten die Geschichte von Coco, dem neugierigen Äffchen, aber das spielte keine Rolle. Als wir an die Stelle kamen, wo Coco ohnmächtig wird, weil er an der Ätherflasche geschnüffelt hat, mussten wir beide lachen – ganz tief aus unserem Bauch heraus. Dann schlossen wir Sam fest in die Arme.
»Wann wurde dieses Buch denn
geschrieben
?«, wollte Tim wissen und wischte sich die Augen trocken. Ich sah ihn an und musste grinsen, denn mir fiel gerade ein Traum ein. Ganz im Stil des berühmten Illustrators und Malers Norman Rockwell hatte ich von einer Familie geträumt, in der es so viel Liebe gibt, dass sie sich sogar in einem chinesischen Krankenhaus amüsieren kann. Genug Liebe, um Leid durch Freude zu ersetzen.
Nach einer Weile wurde Sam schläfrig. Tim drängte mich zu einem Spaziergang, ich müsse unbedingt mal frische Luft schnappen.
»Frische Luft? Hier?«, grinste ich ihn an.
»Hast ja recht, dann einigen wir uns darauf, dass du dir die Beine vertrittst.«
Ich trat aus der Klinik ins Freie, schützte meine Augen vor dem grellen Tageslicht und sah mich um. Mitten in der Nacht war mir dieser Stadtteil viel schäbiger vorgekommen. Es gab viele Geschäfte und Läden, deren Eingangstüren nun sperrangelweit offen standen. Eine Gruppe von Männern stand um einen Baum herum und rauchte Zigaretten und junge Mütter schoben Kinderwagen, in denen dick vermummte Babys lagen. Ich hob die Arme in die Luft und reckte und streckte mich. Meine Gelenke knackten. Ich beugte mich vornüber und berührte meine Zehen. Dann ging ich ein kleines Stück die Straße hinunter, schwang meine Arme, drehte meinen Kopf und versuchte die Muskeln an meinem Körper zu lockern.
Ich bog in einen kleinen Stadtpark ein und lief einen Weg mit vielen Parkbänken und Blumen entlang. Versteckt hinter Bäumen und glitzernden Steinen im Sonnenlicht sah ich riesige Blumentöpfe und einen buddhistischen Tempel. Obwohl ich mich nicht ganz wohl dabei fühlte, öffnete ich die mit vielen roten Ornamenten verzierte Eingangstür und warf einen Blick ins Innere. Direkt neben der Tür standen ordentlich aufgereiht zahlreiche Schuhe. Ich zog auch meine aus und schlüpfte hinein.
Weihrauch, Kerzen – der Duft aus meiner Kindheit, nur diesmal in einem buddhistischen Tempel anstatt einer katholischen Kirche. Schon klar, ich war in China und nicht in Amerika. Doch mit einem Mal spielte das keine Rolle mehr. Die Mönche in braunen Kutten ließen sich auf die Knie fallen und sprachen ihre Gebete. Als sie fertig waren, kniete ich nieder und faltete die Hände zum Gebet. Vielleicht lag es an dem Gemurmel, dem Gong, den Liedern oder den Glocken, aber ich fühlte mit einem Mal, wie mir so warm wurde, als hätte ich einen Löffel heißer Kürbissuppe gegessen, die langsam meine Kehle hinunterrann, woraufhin sich ein wohlig warmes Gefühl in meinem Bauch ausbreitete.
Ich starrte die Buddhastatuen an und dann kehrten meine Gedanken zu Sam zurück. Noch vor nicht allzu langer Zeit wusste ich noch nicht einmal von ihrer Existenz, vor gerade mal elf Tagen hatte ich sie zum ersten Mal berühren können und jetzt musste ich ständig an sie denken. Ich schloss die Augen und sofort sah ich Sam vor meinem inneren Auge. Doch dann kam Mom ins Bild. Ich lächelte, denn sie zu sehen war ein seltenes Vergnügen. Am ehesten vergleichbar damit, dass man rein zufällig völlig durchgefroren und durchnässt bei einem Spaziergang auf ein altmodisches Diner stößt, in dem es genau denselben Schokoladenkuchen gibt, wie ihn meine Mom immer zu meinem Geburtstag gebacken hatte: sehr schokoladig mit einer zart schmelzenden Füllung. Bei dem Gedanken wurde ich traurig, denn ich wusste ja, wie gerne sie jetzt bei mir wäre. Wie stolz sie auf mich wäre, weil wir Sam adoptiert hatten. Ich sah sie vor mir, wie sie leicht
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