Töchter auf Zeit
Mutter geraubt, als ich noch viel zu jung dafür war. O mein Gott, es brach mir das Herz, als ich mich wieder darin erinnerte, wie oft in Moms Versprechen von »immer und ewig« die Rede gewesen war: »Du bist für immer mein«, »Ich liebe dich jetzt und in alle Ewigkeit«, »Bis ans Ende meiner Tage.« Und sie hat das wirklich so gemeint, war felsenfest davon überzeugt. Sie konnte ja beim besten Willen nicht wissen, dass ihr Versprechen zerplatzen würde wie eine Seifenblase. Anscheinend können wirauf nichts, was uns wichtig war, Einfluss nehmen: ein Kind auf die Welt bringen, ihm ein schönes Leben bieten. Wir können ja nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob dieses junge Leben auch wirklich zu uns gehören oder ob man es uns wieder wegnehmen würde.
Die folgenden achtundvierzig Stunden vergingen, ohne dass ich so recht wusste, wie uns geschah. Das grelle Licht der Neonröhren machte es mir unmöglich zu sagen, ob es mitten am Tag oder mitten in der Nacht war. Irgendwann hatte ich Sam in meine Arme gelegt und mich der Länge nach auf dem Krankenhausbett ausgestreckt. Als ich aufwachte, kam mir das Licht irgendwie anders vor, goldener, und ich wettete, dass es früh am Morgen war. Ich griff über Sams angewinkeltes Ärmchen, an dem noch immer der Tropf hing, und griff nach meinem Handy. Es war fünf Uhr früh, nur ein paar Stunden später, seit ich eingeschlafen war. Sam, im Schlaf nach unten gerutscht, lag jetzt auf meinem Schoß. Ihre Beine lagen zwischen meinen, ihr Kopf knapp oberhalb meines Magens. Ihr Speichel war schon durch meine Hose getropft.
Auch Tim schlief noch, obwohl er viel zu groß für den Stuhl war. Sein Kopf war nach hinten gefallen, was weder bequem aussah noch als natürliche Haltung durchging. Mit Sicherheit würde er Kopfschmerzen haben und unter Nackenverspannungen leiden, wenn er aufwachte. Zum Glück hatte ich noch ein Schmerzmittel in meiner Handtasche.
Ich versuchte meine Augen zu schließen, weil ich gerne noch eine Runde geschlafen hätte, aber es war, als würde jemand meine Lider nach oben reißen und dort festkleben. Ich strich mit meinem Finger sanft über Sams Arm. Entrüstung machte sich in mir breit. Weshalb war Sam bloß krank, verdammt noch mal? War sie krank, und wir waren schuld daran, weil wir sie adoptiert hatten? Oder weil die letzten paar Tage, die sie mit uns verbracht hatte, zu viel für dieses zartePflänzchen waren? Was hatte sie nicht alles erlebt in jüngster Zeit: die vielen Busfahrten, die Umstellung ihrer Ernährung, das überhitzte Hotelzimmer. Wäre sie besser dran, wenn wir sie in Ruhe gelassen hätten? Oder wäre sie sowieso krank geworden? Wenn ja, wer hätte sich dann im Waisenheim um sie gekümmert? Was wäre passiert, wenn wir erst später nach China geflogen wären? Oder wenn sie schon letzten Monat krank geworden wäre? Wer hätte sie dann wohl hochgenommen und getröstet? An wen hätte sie sich klammern können, verdammt noch mal? Wer hätte sich an meiner Stelle um sie gekümmert?
Am liebsten hätte ich mit meinen Füßen gegen den Metallrahmen des Bettes getreten, mir die Lunge aus dem Hals geschrien und mit den Fäusten auf das Kissen eingeschlagen. Ein Gedanke traf mich besonders hart: Um ein Haar wäre ich gar nicht hierhergekommen und hätte ihr beistehen können. Ich hätte die Gelegenheit, eine Mutter zu werden, die sich um ihr krankes Kind kümmert, beinahe verpasst. Das würde niemals mehr passieren, garantiert! Ich würde Sam nie mehr allein lassen! Noch während ich mir das schwor, durchfuhr mich ein weiterer schlimmer Gedanke. Es war schlimm, wie wir mit unseren nächsten Verwandten umgingen. Dass wir es nämlich für selbstverständlich hielten, dass sie immer für uns da sein würden. Doch was war mit dem Verhältnis zwischen Claire, mir und unserem Vater los?
Entfremdet
. Worauf warteten wir? Verdammt, verdammt, verdammt.
»Sobald wir zu Hause sind, mein kleiner Schatz«, flüsterte ich in Sams Ohr, »bringen wir diese Familie wieder zusammen – und zwar für immer. Dich, deinen Daddy und mich, deine Tante Claire, Maura, Onkel Ross und Opa Larry.«
Am nächsten Morgen hatte Sam kein Fieber mehr. Ihr Schlafanzug war klitschnass, und sie kam mir vollkommen gesund vor. Sanft rieb ich ihr mit einem feuchten Waschlappen über die Stirn.
»Mein braves Kind«, stieß ich unter Schluchzern hervor. »Ich wusste doch, dass es dir schon bald wieder bessergehen würde.«
Dann untersuchte sie der Arzt. Es war kaum noch Flüssigkeit in
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