Töchter auf Zeit
Tee und dachte über alles nach. Vielleicht waren das ja
gute
Nachrichten. Es war doch bestimmt besser, etwas mehr als nötig herauszuschneiden, als das Risiko einzugehen, dass der Krebs sich weiter ausbreitete, oder? Was sollte dafür sprechen, Organe im Körper zu belassen, die ein gefundenes Fressen für den Krebs waren? Früher oder später mussten sie dann ja doch entfernt werden! Nein, da war es schon besser, alles auf null zu setzen. Schließlich ging es um Claires Leben. Keine Frage, sie wäre traurig wegen der Hysterektomie und weil sie jetzt keine Kinder mehr bekommen konnte, aber sie würde bestimmt damit fertigwerden. Schon morgen hätte sie einen Plan B.
Da mir meine Überlegungen so logisch schienen, hatte ich die Kraft, Tim anzurufen.
»Ich bin in einer halben Stunde zu Hause.«
»Das ist nicht nötig. Mir geht’s gut. Ehrlich! Alles wird gut. Sie schafft das!«
»Ich komme gleich heim. Bis bald.«
Sobald Tim zur Tür hereingekommen war, streckte er die Arme aus und zog mich an sich.
Ich ließ mich nur kurz drücken und schob ihn dann weg. »Was gibt’s Neues im Restaurant?«
»Helen.«
»Im Ernst. Was war los heute? Was ist mit Sondra und Philippe? Gibt es da was Neues?«
»Komm, setz dich!«, sagte Tim und griff nach meinem Ellbogen.
»Im Trockner ist noch Wäsche«, erwiderte ich und wollte seitlich an ihm vorbeilaufen.
»Helen!« Tim stand breitbeinig vor mir – ein Hindernis, an dem ich nicht vorbeikam. »Hör auf damit. Setz dich hin, dann reden wir über alles.«
»Nein.«
Tim drückte mich fest an sich und in dem Augenblick, in dem meine Wange die weiche Wolle seines Pullis berührte, begann ich zu weinen. Ich weinte, bis ich keine Luft mehr bekam.
Später am Abend nahm ich Maura und Sam mit in die Jacuzzi-Wanne. Als Maura Seifenschaum auf Sams Beine strich, quietschte meine neue Tochter vor Freude auf. Immer wenn sie breit grinste, konnte man ihre zwei Schneidezähne sehen und die Grübchen in ihren Wangen. Sie war ein Schatz. Ich musste an Claire denken und daran, dass sie Maura niemals verlassen würde. Dann kam mir Sams leibliche Mutter in den Sinn und ich stellte mir vor, welch inneren Kampf sie wohl ausgefochten haben musste.
Ich hatte von Müttern gelesen, die ihre Töchter in einer Gemüsekiste am Straßenrand aussetzten. Sams Mutter dagegenwar nach der schmerzhaften und kräftezehrenden Geburt noch Meilen gelaufen, um den perfekten Platz für Sam zu finden, an dem ihr nichts passieren konnte. Ich sah vor meinem inneren Auge, wie sie sich hinter Büschen versteckte und anhören musste, was vorbeieilende Passanten über das ausgesetzte Baby sagten. Wie schrecklich muss es für sie gewesen sein, dort still zu verharren, obwohl doch alle Sinne ihres Körpers, allen voran der Mutterinstinkt, ihr befahlen, zu ihrem Kind zurückzukehren. Bestimmt ist ihr Herz in diesem Moment gebrochen. Oder es hat sich in Stein verwandelt.
Nach unserem gemeinsamen Bad trocknete ich Sam ab, cremte sie ein und zog ihr den Schlafanzug an. Auch Maura schlüpfte in ihren
Dora
-Pyjama. Dann legte Tim einen Film ein, und wir machten es uns alle vier auf dem Bett gemütlich. Ich schmiegte mich an Tims Brust, während Maura meine Hüfte als Kissen benutzte. Sam lag in dem Dreieck, das unsere Beine bildeten. Eine halbe Stunde später schliefen Maura und Sam tief und fest. Die beiden lagen mit dem Gesicht zueinander dicht nebeneinander und fassten sich an den Händen. Sams schwarze Haare – mich erinnerte die Farbe an Lakritze – und Mauras kastanienfarbene Haare umrahmten ihre süßen Gesichter mit ihren Pfirsichbäckchen und ihren Schmollmündern.
»Wie lief es heute mit Larry?«, wollte Tim dann wissen. Obwohl er bereits geduscht hatte, konnte ich immer noch Rosmarin an seinen Händen riechen.
»Gut«, meinte ich, obwohl ich noch immer dabei war, die Gefühle, die unsere Begegnung bei mir hervorgerufen hatte, zu sortieren. »Am Anfang war es schon ein wenig merkwürdig … gut, dass die Mädels dabei waren. Larry und ich haben uns nur angestarrt und nicht viel miteinander geredet.«
»Na ja, immerhin ist ein Anfang gemacht.«
»Ja, es war schön, ihn zu sehen«, sagte ich. »Er hielt Sam in seinen Armen, als hätte er noch nie etwas anderes getan.«
»Was sagt er zu Claire?«
»Es erinnert ihn an Mom, aber das war ja klar.«
»Wie geht es mit Claire nun weiter?«
»Chemo, hat Ross gesagt. In zwei Wochen.«
»Weißt du, dass du deine Sache echt gut machst?«, ermutigte mich mein
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