Töchter auf Zeit
mir durch den Kopf.
»Was macht er denn her?«, fragte Claire und ihre Stimme klang geschwächt, als ob sie nicht die Kraft hätte, ihren Unmut zu zeigen.
»Er ist unser Vater, Claire«, sagte ich mit sanfter Stimme. »Du bist krank, und er würde dich gern sehen. Lass es doch zu, Claire. Können wir nicht eine Familie sein, immerhin bist du krank?«
»Wie geht es dir, meine Liebe?«, fragte Larry und machte ein paar zögerliche Schritte auf sie zu.
»Wie du siehst, nicht wirklich gut.«
Ross beendete sein Telefonat und kam auf uns zu. Er hielt Larry die Hand hin.
»Du kennst Larry noch, oder?«, sagte ich zu Ross, denn wenn mich mein Gedächtnis nicht trog, hatten die beiden sich zuletzt auf meiner Hochzeit gesehen.
»Schön, dass du da bist«, sagte Ross.
Ross beugte sich über Claire, küsste sie auf die Stirn und meinte, dass er nun nach Hause führe, um ein paar ihrer Sachen zu holen. Dann küsste er sie noch einmal und ging aus dem Zimmer. Wir drei warfen einen Blick zum Fernseher.
»Wenn ich dich so sehe, kommt alles wieder hoch«, sagte Larry. »Ich muss an deine Mom denken, und wie krank sie war.« Larrys Mund verzog sich leicht. »Ich habe sie im Krankenhaus besucht, kurz bevor man sie zum Sterben nach Hause geschickt hat.«
»Ich weiß«, antwortete Claire.
»Das hast du mir nie erzählt«, schaltete ich mich ein.
Sie zuckte mit den Schultern.
Was hatte sie mir sonst noch alles verschwiegen?
»Weißt du, dass sie dir verziehen hat?«, sagte Claire so leise, dass wir sie kaum verstehen konnten. Sie strich ihre Bettdecke glatt und stopfte sie sich unter ihre Beine. »Je schlechter es ihr ging, umso versöhnlicher wurde sie. Sie sagte uns, wir sollten dir auch verzeihen.«
»Sie war immer noch eine tolle Frau.«
»Aber ich konnte das nicht«, sagte Claire. »Und …« Sie holte tief Luft, atmetet schwer aus und wieder ein. »Ich glaube, meine Wut auf dich hat mich von meiner Trauer um Mom abgelenkt. Schließlich war ich immer noch rasend, dass sie dir mir nichts, dir nichts verziehen hatte.«
»Du hattest jeden Grund der Welt, sauer auf mich zu sein.«
»War ich ja auch«, sagte Claire aber ihre Worte klangen kraftlos, ohne jegliche Energie. »Es fällt mir noch immer schwer zu verstehen, was all die Jahre zwischen uns passiert ist.« Sie sahihm ins Gesicht, holte wieder tief Luft und verengte ihre Augen. »Dass du und Mom euch getrennt habt, dass Mom dann krank wurde und dass unsere Familie dann in ihre Einzelteile zerbrochen ist.«
»Deine Mutter und ich …«
»Nein«, fiel ihm Claire ins Wort. »Das mit dir und Mom ist nicht das Thema. Ich habe nicht verstanden, wie du es in Ordnung finden konntest, uns im Stich zu lassen.«
Larry schloss die Augen und öffnete sie gleich darauf wieder. »Ich wollte ja zurückkommen, ich habe es ja versucht.«
»Da war es schon zu spät.«
Wann war das denn?,
dachte ich, und mir schwirrte der Kopf. Vor oder nach Moms Tod?
»Von Tag zu Tag habe ich mich mehr geschämt«, sagte unser Vater. »Ich hatte mir fest vorgenommen, wieder zu euch zu ziehen, nachdem eure Mom gestorben war. Ich sagte mir wieder und wieder, dass nach allem, was ich verbockt hatte, es das Mindeste sei, wenn ich mich um euch kümmerte. Doch mit jedem Tag fiel es mir schwerer. Ich war gezwungen, mich mit der nackten Tatsache abzufinden, dass eure Mutter nicht mehr da war. Und ich musste mir vor Augen halten, was ich ihr angetan hatte. Ich kam zu dem Schluss, dass ich ihr ihre letzten Lebensjahre versaut habe. Ich habe mich entsetzlich geschämt und bin an den Punkt gekommen, an dem ich euch Kinder nicht mehr in die Augen sehen konnte. Ich sagte mir dann, ihr wärt besser dran ohne mich. Und dass ihr mich ohnehin nicht sehen wollt. Aber ich habe wirklich alles Mögliche versucht, um es wiedergutzumachen.«
In diesem Augenblick kam die Schwester herein, maß Claires Temperatur, ihren Blutdruck und hörte ihre Brust ab. »Ich muss Ihnen leider noch mehr Blut abnehmen«, entschuldigte sie sich.
»Ich habe schon fast keines mehr«, lächelte Claire und streckte ihren Arm aus.
Larry und ich sahen auf den Fernseher, während die Schwester ihr Blut abnahm. Als sie den Raum verließ, blickten wir weiterhin auf den Fernseher und schwiegen. Es wurde langsam dunkel, und Claire sah aus, also ob sie jeden Moment einschliefe. Dann schlichen Larry und ich uns aus dem Zimmer und standen in dem hell erleuchteten Flur.
»Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?«, fragte ich ihn.
Wir gingen in
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