Töchter auf Zeit
für eure Schule. Und dann wart ihr auf einmal – zumindest kam es mir so vor – große Mädchen und habt mir nichts mehr erzählt. Ihr wart beide kluge Mädels und anscheinend kamt ihr auch ohne mich zurecht. Je größer und selbstständiger ihr wurdet, umso mehr drängte sich mir das Gefühl auf, mein Vater würde es mir übel nehmen, dass ich nicht mehr Kontrolle über euch hatte. Ich glaube, tief in meinem Inneren habe ich noch immer versucht, den alten Herrn zu beeindrucken. Den Rest kennst du ja. Ich habe andere Mittel und Wege gefunden, mein Selbstbewusstsein zu stärken.«
Larry stand auf, ging ans andere Ende des Spielplatzes, hob einen Stein auf und warf ihn in die Luft.
Ich sah Maura an und hielt Sams Hand. Da war sie also – Larrys große Beichte. Seine Erklärung, weshalb er so geworden war. Der Grund für seine gescheiterten Versuche, sein Leben auf die Reihe zu kriegen, lag also an seiner miesen Kindheit.
Ich stand auf, ging zu ihm und tätschelte seine Schulter. »Ich finde es gut, dass du jetzt hier bist.«
Eine Woche später, nur wenige Tage bevor Claire mit ihrer Chemo hätte beginnen sollen, wurde sie als Notfall ins Krankenhaus eingeliefert. Ross rief an und meinte, dass sie Probleme mit ihren Nieren hätte. Der behandelnde Arzt sprach von akutemNierenversagen und dass eine Chemotherapie jetzt nicht mehr infrage käme.
»Ich spende ihr eine von meinen«, war meine spontane Reaktion.
»Das geht leider nicht«, erklärte mir Ross. »Ihr Körper würde eine Transplantation im Moment nicht verkraften.«
»Es muss aber doch irgendeine Option geben.«
»Wir reden gleich mit dem Arzt.«
»Ich bin in fünfzehn Minuten bei euch.«
»Was ist los?«, wollte Tim wissen.
»Ich weiß es nicht!«, sagte ich und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Entweder diese Ärzte sind allesamt Idioten oder Ross hat alle Informationen missverstanden. Er sagt, sie könne keine Chemo machen, weil ihre Nieren das nicht verkraften würden. Und eine Nierentransplantation kommt auch nicht infrage, weil sie das auch nicht verkraftet.«
»Helen«, sagte Tim und wollte mich an sich ziehen.
»Lass mal!«, sagte ich. »Irgendetwas stimmt da nicht. Sie müssen sie doch behandeln. Sie muss ins Hopkins. Höchste Zeit, dass sie an Ärzte gerät, die wissen, was sie tun.«
»Helen, sie hat Krebs.«
»Sie ist
entkräftet,
weil sie nichts isst!«, brachte ich mit schwacher Stimme heraus. »Du weißt doch, wie zickig sie mit Essen in letzter Zeit war. Alles, was sie braucht, ist einen Cheeseburger und einen Schoko-Milchshake.«
Tim zog mich an sich und drückte mich ganz eng an sich. Ich entspannte mich augenblicklich, als ich spürte, wie er ein- und ausatmete. Dann sah ich ihn an und bemerkte, dass ihm Tränen die Wangen hinunterliefen.
Ich wand mich aus seinen Armen. »Hör auf! Mein Bauch sagt mir, dass sich die Ärzte irren, was ihre Nieren anbelangt. Ich meine, Mom hatte doch auch keine Probleme mit ihren Nieren.«
»Helen.«
»Ich muss jetzt los.«
»Ich bleibe mit Sam hier. Ross soll mich anrufen, wenn Maura nach Hause kommen möchte«, sagte er, drehte mir den Rücken zu und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
In der Notaufnahme war wenig los, als ich dort ankam. Unterwegs hatte ich Larry angerufen, und er stand schon in der Lobby und wartete auf mich.
Wir gingen auf Zehenspitzen in Claires Zimmer, weil wir nicht sicher waren, ob sie nicht schlafen würde, aber sie war hellwach und starrte in den Fernseher.
»Wie geht es dir, Claire?«, fragte Larry.
»Sieht ganz nach Nierenversagen aus«, stöhnte Claire.
»Nimm meine«, erwiderte Larry.
»Sie hatte schon mehrere Angebote in dieser Richtung«, mischte ich mich ins Gespräch. »Anscheinend sind wir alle ganz scharf drauf, ihr eine unserer Nieren zu spenden.«
»Ach, wenn es doch nur so einfach wäre«, sagte Claire und grinste, als ob das witzig wäre.
»Und? Wie sieht der Plan aus? Was machen wir jetzt?«
Claire sah mich nur mit hochgezogenen Brauen und zusammengepressten Lippen an. Zum ersten Mal hatte meine Schwester keine Lösung parat.
In den kommenden vier Wochen ging Claire in die Dialyse. Davis und Delia kamen aus North Carolina, um mir mit Sam zu helfen, Martha aus Charlottesville, um sich um Maura zu kümmern. An den meisten Tagen brachte Ross Claire zur Dialyse ins Krankenhaus, aber wenn er mal nicht konnte, übernahm ich das, immer mit Larry an meiner Seite. Bei jedem Besuch taute das Eis, das zwischen ihnen
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