Toechter Aus Shanghai
Keine will gegen mein Gesicht antreten, weil ich gewinnen würde. Ich weiß, das klingt anmaßend, aber das sagen hier alle.«
Die Filmcrew hat allen Komparsen Plätze zugewiesen und baut noch ein paar Requisiten für den nächsten Teil der Szene auf. Der Film, in dem wir mitspielen, »warnt« vor der japanischen Gefahr. Wenn die Japaner in China einfallen und das Ausland brüskieren, müssen wir uns dann nicht alle Sorgen machen? Soweit ich es beurteilen kann, nachdem wir stundenlang immer wieder dieselbe Straßenszene drehen, hat die Geschichte bisher nur wenig mit dem zu tun, was May und ich auf unserer Flucht aus China erlebt haben. Doch als der Regisseur die nächste Szene beschreibt, zieht sich mein Magen zusammen.
»Es werden Bomben fallen«, erklärt er über ein Megafon. »Sie sind nicht echt, aber sie werden sich echt anhören. Dann stürmen die Japaner den Markt. Ihr müsst da entlang laufen. Du da drüben mit dem Karren, wirf ihn auf dem Weg nach draußen um. Und ich will, dass die Frauen schreien. Schreit richtig laut - als hättet ihr Todesangst.«
Als die Kamera läuft, halte ich Joy auf der Hüfte, stoße einen, wie ich finde, ziemlich guten Schrei aus und laufe los. Das wiederholt sich zigmal. Zuerst hatte ich Angst, es würde Erinnerungen wachrufen, doch das passiert nicht. Die falschen Bomben bringen den Boden nicht zum Beben. Meine Ohren werden nicht taub durch die Erschütterungen. Niemandem werden Arme oder Beine abgerissen. Es spritzt kein Blut. Es ist alles ein Spiel und macht Spaß, so wie vor vielen Jahren, als May und ich für unsere Eltern kleine Theaterstücke aufführten. Und May hat recht, was Joy angeht. Sie befolgt die Anweisungen ganz genau, wartet zwischen den Aufnahmen und weint los, sobald die Kamera läuft, genau wie es ihr gesagt wurde.
Um zwei Uhr nachts werden wir wieder in die Maske geschickt, wo uns künstliches Blut ins Gesicht und auf die Kleidung geschmiert wird. Als wir ans Set zurückkehren, müssen sich einige von uns auf den Boden legen - mit verdrehten Beinen, verrutschter, blutiger Kleidung und leerem Blick. Jetzt liegen die Toten und Sterbenden um uns herum. Wenn die japanischen Soldaten anrücken, sollen wir schreiend flüchten. Das fällt mir nicht schwer. Ich sehe die gelben Uniformen und höre das Stampfen der Stiefel. Eine andere Komparsin - eine Bäuerin wie ich - rempelt mich an, und ich schreie. Als die Soldaten mit gezogenen Bajonetten vorwärtsstürmen, will ich fortlaufen, doch ich falle hin. Joy rappelt sich auf und rennt weiter, steigt über Leichen, entfernt sich immer weiter von mir, lässt mich zurück. Ich versuche aufzustehen, doch ein Soldat drückt mich nach unten. Ich bin gelähmt vor Angst. Obwohl die Männer um mich herum chinesische Gesichter haben, obwohl sie meine Nachbarn sind, lediglich als Feind verkleidet, schreie ich wie von Sinnen. Ich bin nicht mehr an einem Drehort, ich bin in einer Hütte vor Shanghai. Der Regisseur ruft: »Cut!«
May eilt an meine Seite. Die Sorge steht ihr ins Gesicht geschrieben. »Ist alles in Ordnung?«, fragt sie und hilft mir hoch.
Ich bin noch immer zu aufgewühlt, um zu sprechen. May schaut mich fragend an. Ich möchte nicht über das reden, was ich fühle. Schon im Krankenhaus in China wollte ich nicht darüber sprechen, als ich aus der Narkose erwachte, und das ist jetzt nicht anders. Ich nehme May meine Tochter aus den Armen und drücke Joy fest an mich. Ich zittere noch immer, als der Regisseur zu uns herübergeschlendert kommt.
»Das war umwerfend«, sagt er. »Ich hätte Sie noch zwei Häuserblocks weiter hören können. Könnten Sie das noch mal machen?« Er schätzt mich ab. »Könnten Sie das noch ein paarmal wiederholen?« Als ich nicht sofort antworte, sagt er: »Das gibt mehr Geld für Sie und auch für das Kind. Meiner Meinung nach
ist ein guter Schrei ebenso viel wert wie eine Sprechrolle, und ein Gesicht wie von der Kleinen kann ich immer gebrauchen.«
Mays Finger graben sich in meinen Arm.
»Und, machen Sie es?«, hakt der Regisseur nach.
Ich verdränge die Erinnerung an die Hütte und denke an die Zukunft meiner Tochter. Auf diese Weise könnte ich diesen Monat etwas mehr Geld für sie auf die Seite legen.
»Ich versuche es«, bringe ich hervor.
May drückt fester zu. Als der Regisseur zurück zu seinem Stuhl geht, zieht May mich zur Seite. »Das musst du mir überlassen«, beschwört sie mich voller Verzweiflung, ohne jedoch die Stimme zu heben. »Bitte, bitte überlass es
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