Toechter Aus Shanghai
könnte, habe ich immer gesagt: ›Ich bin Waise. Soll ich nun kämpfen oder nicht?‹«
»Bist du denn nicht zu alt dafür?«, fragt Onkel Charley.
»Auf dem Papier bin ich dreißig, aber in Wirklichkeit bin ich erst dreiundzwanzig. Ich bin gesund und bereit zu sterben. Warum sollten die mich nicht nehmen?«
Einige Tage später kommt Edfred ins Café und verkündet: »Die Armee hat mir gesagt, ich soll mir meine Socken selbst kaufen. Wo finde ich so was?« Er lebt seit siebzehn Jahren in Los Angeles, weiß aber immer noch nicht, wo oder wie man die einfachsten Dinge bekommt. Ich biete ihm an, mit ihm zur May Company zu gehen, doch er meint: »Ich muss allein dahin. Ich muss jetzt lernen, auf mich selbst gestellt zu sein.« Einige Stunden später kehrt er zerkratzt und mit Löchern in den Knien seiner weiten Hose zurück. »Ich habe die Socken gekauft, aber als ich das Geschäft verließ, wurde ich von irgendwelchen Männern auf der Straße herumgeschubst. Sie dachten, ich wäre ein Japs.«
Während Edfred im Ausbildungslager ist, kontrollieren Vater Louie und ich den Laden, prüfen jeden Gegenstand und ersetzen Aufkleber mit der Beschriftung MADE IN JAPAN durch neue Etiketten, auf denen 100% CHINESE PRODUCT steht. Vater Louie beginnt, Souvenirs und Raritäten aus Mexiko zu kaufen, was uns zur direkten Konkurrenz der Händler auf der Olvera Street macht. Sonderbarerweise scheinen unsere Kunden
den Unterschied zwischen Waren aus China, Japan oder Mexiko nicht zu bemerken. Die Sachen sind ausländisch, das reicht.
Auch wir sind und bleiben Ausländer, und das macht uns verdächtig. Die Familienverbände in Chinatown lassen Schilder drucken, auf denen steht »CHINA - VERBÜNDETER DER USA«. Wir können sie in unseren Geschäften, Häusern und Autos ins Fenster hängen, damit wir nicht für Japaner gehalten werden. Armbänder und Abzeichen werden gefertigt, die wir tragen, damit wir nicht auf der Straße angegriffen oder umzingelt, in einen Zug verfrachtet und ins Internierungslager gesteckt werden. Der Regierung ist bewusst, dass die meisten Weißen glauben, alle Asiaten sähen gleich aus, daher werden spezielle Meldebescheinigungen ausgegeben, die bestätigen, dass wir »Angehörige des chinesischen Volkes« sind. Keiner von uns darf auch nur einen Augenblick nicht auf der Hut sein.
Doch als Edfred nach seiner militärischen Ausbildung zu Besuch nach Los Angeles kommt, salutieren die Leute vor ihm auf der Straße. »Wenn ich meine Uniform trage, weiß ich, dass ich nicht herumgeschubst werde. Sie sagt den Menschen, dass ich ebenso viel Recht habe wie alle anderen, hier zu sein«, erklärt er. »Jetzt habe ich einen dritten Grund: In der Armee bekomme ich eine faire Chance - da interessiert es niemanden, dass ich Chinese bin, wichtig ist nur, dass ich in der Uniform der Vereinigten Staaten kämpfe.«
An jenem Tag kaufe ich eine Kamera und mache die ersten Fotos. Mein Bild von Mama und Baba halte ich weiterhin versteckt, falls die Einwanderungsbeamten wieder ihre regelmäßige Überprüfung machen, doch Onkel Edfred in den Krieg ziehen zu sehen ist etwas anderes. Er wird für Amerika kämpfen... und für China. Wenn die Beamten das nächste Mal kommen, werde ich ihnen stolz meinen Schnappschuss von Onkel Edfred zeigen - unverändert chinesisch dünn trägt er seine Uniform, die Mütze keck übers Ohr geschoben, grinst in die Kamera und sagt zu uns: »Nennt mich von jetzt an Fred. Nicht mehr Edfred. Verstanden?«
Auf dem Bild fehlt mein Schwiegervater, der mit verstörtem, ängstlichem Gesicht abseitssteht. In den letzten Jahren haben sich meine Gefühle ihm gegenüber gewandelt. Hier in Los Angeles hat er so gut wie nichts: Er ist Bürger dritter Klasse, wird ebenso diskriminiert wie wir alle und wird niemals aus Chinatown herauskommen. Jetzt kämpft Amerika, das Land seiner Wahl, auch noch gegen Japan. Da die Handelsrouten geschlossen sind, bekommt er keine Waren mehr aus den Rattan- und Porzellanfabriken von Shanghai und kann kein Geld mehr durch das Einschleusen von Papierteilhabern verdienen. Stattdessen schickt er weiterhin »Teegeld« an seine Verwandten im Dorf Wah Hong, nicht nur weil man in China lange von einem amerikanischen Dollar leben kann, sondern auch weil seine Sehnsucht nach der Heimat nie nachgelassen hat. Yen-yen, Vern, Sam, May und ich haben niemandem, dem wir Geld schicken könnten, deshalb sind Vater Louies Geldsendungen von uns allen - für all die Dörfer, Häuser und Familien, die wir
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