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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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sickert in Gassen und düstere Ecken. Über uns hängen rote Laternen, verwandeln die Szene in einen unheimlichen Traum.
    »Auf Anfang! Alle auf Anfang!«
    Die Heimat verschwindet aus meinen Gedanken, und ich bin wieder am Drehort, wo ich May und Joy besuche. Grelle Lichter richten sich auf den nachgestellten Schauplatz. Eine Kamera fährt vorbei. Ein Mann dirigiert einen Mikrofongalgen hoch über uns. Es ist September 1941.
    »Du solltest stolz sein auf Joy«, sagt May und schiebt meiner Tochter eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Egal, in welchem Studio wir sind, alle sind begeistert von ihr.«
    Mit wachem Blick sitzt Joy auf dem Schoß ihrer Tante und macht einen zufriedenen Eindruck. Sie ist dreieinhalb Jahre alt und wunderschön, »genau wie ihre Tante«, sagen die Leute. Und was für eine perfekte Tante May abgibt: Sie besorgt Auftritte für Joy, fährt mit ihr zum Drehort, kümmert sich darum, dass sie ein
passendes Kostüm trägt und genau an der richtigen Stelle steht, wenn der Regisseur seine Kamera auf ein unschuldiges Gesicht gerichtet haben will. Im letzten Jahr hat Joy so viel Zeit mit ihrer Tante verbracht, dass ich für sie wie eine Schale saurer Milch bin. Ich erziehe Joy, ich fordere sie auf, ihr Abendbrot zu essen, sich ordentlich anzuziehen und ihren Großeltern, Onkeln und allen Menschen, die älter sind als sie, Respekt zu erweisen. May hingegen verwöhnt Joy mit kleinen Geschenken, Liebkosungen und lässt sie bei Drehs wie diesem die ganze Nacht aufbleiben.
    Ich wurde immer klug genannt - selbst mein Schwiegervater behauptet das von mir -, aber was vor ein paar Jahren noch eine gute Idee zu sein schien, hat sich jetzt als großer Fehler herausgestellt. Als ich einwilligte, May dürfe Joy mit zu den Dreharbeiten nehmen, war mir nicht klar, dass meine Schwester meiner Tochter eine ganz andere Welt bieten würde, eine Welt, die Spaß macht und mit mir überhaupt nichts zu tun hat. Als ich May darauf ansprach, runzelte sie die Stirn und schüttelte den Kopf. »So ist das gar nicht. Kommt mit und schau dir an, was wir da machen. Wenn du siehst, wie gut sie ist, wirst du deine Meinung ändern.« Aber es geht ihr nicht nur um Joy. May will vorführen, wie wichtig sie ist, und von mir hören, wie stolz ich auf sie sei. Seit unserer Kindheit läuft es nach diesem Muster ab.
    Und so stiegen wir heute am späten Nachmittag zusammen mit Nachbarn, für die May ebenfalls Komparsenrollen besorgt hatte, in einen Bus. Als wir beim Studio ankamen, fuhren wir durch das Tor direkt bis zur Garderobe, wo wir von Frauen irgendwelche Kleidung in die Hand gedrückt bekamen, ohne Rücksicht auf die Größe. Mir gab man eine schmutzige Jacke und eine zerknitterte weite Hose. So etwas habe ich nicht mehr getragen, seit May und ich uns aus China schlichen und auf Angel Island ausharrten. Als ich die Sachen umtauschen wollte, sagte die Garderobiere: »Du musst schmutzig aussehen, viel schmutzig, verstanden?« May, die normalerweise prächtige, glanzvolle
Rollen spielt, nahm sich ebenfalls Bauernkleidung, damit wir zusammen in der Szene auftreten konnten.
    Wir zogen uns in einem großen Zelt um, in dem es weder Privatsphäre noch eine Heizung gab. Obwohl ich meine Tochter jeden Tag ankleide, übernahm das aus irgendeinem Grund ihre Tante, zog Joy das Filzkleidchen aus und half ihr in eine Hose, die ebenso dunkel, schmutzig und weit war wie die von May und mir. Dann gingen wir in die Maske. Unser Haar wurde unter schwarzen Tüchern versteckt, die uns eng um den Kopf gebunden wurden. Joy banden sie die Haare mit Gummibändern nach hinten, bis sie aussah, als wüchsen ihr schwarze exotische Pflanzen aus dem Schädel. Sie schmierten uns braune Schminke ins Gesicht, was mich daran erinnerte, wie May mich damals mit jener Mischung aus Kakao und Creme eingerieben hatte. Dann gingen wir wieder nach draußen, um uns mit Schlamm aus einer Spritzpistole beklecksen zu lassen. Anschließend standen wir in dem falschen Shanghai und mussten warten. Unsere weiten schwarzen Hosen flatterten im Wind wie dunkle Geister. Alle, die in Amerika geboren sind, werden dem Land ihrer Vorfahren niemals näher kommen als bei diesem Dreh. Jene, die in China geboren sind, können sich durch diese Szene eventuell einen Augenblick lang über den Ozean hinweg zurückversetzen lassen.
    Ich muss zugeben, dass ich mich darüber freue, wie beliebt meine Schwester bei den Studiomitarbeitern ist und wie die anderen Komparsen sie respektieren. May ist glücklich,

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