Toechter Aus Shanghai
meine Tochter, doch sie ist ein Tigerkind und nicht einfach. Und dann ist da auch noch May, die jetzt viel Zeit mit Joy verbringt. Ein Körnchen Bitternis wächst in mir, und Yen-yen hegt und pflegt es. Ich sollte nicht auf diese alte Frau hören, aber ich kann ihr nicht entkommen.
»Diese May, die denkt nur an sich. Ihr hübsches Gesicht verbirgt ein verschlagenes Herz. Sie hat nur eine Aufgabe, und die erledigt sie nicht. Pearl, Pearl, Pearl, du sitzt hier herum und kümmerst dich den ganzen Tag um ein wertloses Mädchen. Aber wo ist das Kind deiner Schwester? Warum schenkt sie uns keinen Sohn? Warum nicht, Pearl, warum? Weil sie egoistisch ist, weil sie nicht daran denkt, dir oder jemand anderem in der Familie zu helfen.«
Ich möchte nicht glauben, dass es stimmt, kann jedoch nicht leugnen, dass May sich verändert. Als ihre jie jie sollte ich versuchen, diese Entwicklung aufzuhalten, aber meine Eltern und ich konnten das schon damals nicht, als May ein kleines Mädchen war, und ich schaffe es ebenso wenig.
Um alles noch schwieriger zu machen, ruft mich May häufig vom Set aus an, senkt die Stimme und fragt: »Wie zum Henker sage ich diesen Leuten, dass sie die Gewehre über der Schulter tragen sollen?« Oder: »Wie zum Henker soll ich ihnen sagen, sie müssen sich alle zusammendrängen, wenn sie geschlagen werden?« Ich sage ihr dann die Wörter auf Sze Yup, weil mir nichts Besseres einfällt.
Zur Weihnachtszeit hat sich unser Leben eingespielt. May und ich sind nun seit zwanzig Monaten hier. Da wir eigenes Geld verdienen, können wir uns Ausflüge leisten oder uns etwas gönnen. Vater Louie bezeichnet uns als Geldverschwender, aber wir überlegen immer genau, wofür wir unser Geld ausgeben. Ich will eine schickere Frisur, als ich sie in Chinatown bekommen kann, doch jedes Mal, wenn ich in einen Friseursalon im amerikanischen Teil der Stadt gehe, heißt es: »Wir schneiden keine Chinesenhaare.« Schließlich finde ich jemanden, der mir nach Ladenschluss, wenn die weißen Kundinnen sich nicht durch meine Anwesenheit gestört fühlen, die Haare schneidet. Es wäre auch nicht schlecht, ein Auto zu haben - für fünfhundert Dollar könnten wir einen gebrauchten viertürigen Plymouth bekommen -, nur wird es lange dauern, bis wir so viel zusammengespart haben.
Unterdessen gehen wir in die großen Kinopaläste am Broadway. Auch wenn wir für die besten Plätze bezahlen, dürfen wir nur auf dem Balkon sitzen. Uns ist das jedoch egal, denn die Filme muntern uns auf. Wir klatschen, wenn wir May als gefallenes Mädchen sehen, das eine Missionarin um Vergebung anfleht, oder Joy als Waisenkind, das von Clark Gable auf einen Sampan gehoben wird. Wenn ich das schöne Gesicht meiner Tochter auf der Leinwand erblicke, schäme ich mich für meine dunkle Haut. Ich trage ein wenig Geld in die Apotheke und kaufe mir eine Perlencreme. Ich hoffe, mein Gesicht wird dadurch so hell, wie es das von Joys Mutter sein sollte.
Im Laufe der Zeit sind aus den Kalendermädchen, die vom Schicksal gebeutelt waren und fliehen wollten, junge Ehefrauen geworden, die mit ihrem Los nicht ganz zufrieden sind - aber welche junge Ehefrau ist das schon? Sam und ich tun, was Eheleute tun, May und Vern ebenfalls. Ich weiß das, weil die Wände dünn sind und ich alles hören kann. Wir haben das, was uns beschützt, akzeptiert und uns angepasst, und wir tun unser Bestes, um es uns angenehm zu machen. An Silvester ziehen wir uns schön an und gehen zur Palomar Dance Hall, aber wir werden
abgewiesen, weil wir Chinesen sind. An der Straßenecke blicke ich hoch zu einem müden, trüben Vollmond, verdüstert von den Lichtern und den Abgasen in der Luft. Wie ein Dichter einst schrieb: Selbst auf den schönsten Mond fällt ein Schatten der Traurigkeit.
DRITTER TEIL
Schicksal
HAOLAIWU
Wir sind zurück in Shanghai. Rikschas klappern vorbei. Bettler hocken auf der Straße, die Arme ausgestreckt, die Handflächen offen. In den Fenstern hängen gegrillte Enten. Straßenverkäufer beugen sich über ihre Karren, kochen Nudeln, rösten Nüsse, braten Tofu. Hausierer verkaufen Bok Choy und Melonen aus Körben. Bauern sind in die Stadt gekommen, schleppen Stangen auf den Schultern, an denen bündelweise lebende Hühner, Enten und Teile geschlachteter Schweine hängen. Frauen in hautengen cheongsams schweben vorbei. Alte Männer sitzen auf umgedrehten Kisten, rauchen Pfeife, die Hände zum Wärmen in die Ärmel geschoben. Dicker Nebel legt sich um unsere Füße,
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