Toechter Aus Shanghai
mir!«
»Aber ich habe eben geschrien«, sage ich. »Ich möchte, dass sich dieser Abend für mich lohnt.«
»Das könnte meine einzige Chance sein...«
»Du bist doch erst zweiundzwanzig...«
»In Shanghai war ich ein Kalendermädchen«, bettelt May. »Doch jetzt sind wir in Hollywood, und mir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Wir alle haben Angst vorm Älterwerden«, sage ich. »Aber ich möchte das ebenso sehr wie du. Hast du vergessen, dass ich auch ein Kalendermädchen war?« Als May nicht antwortet, bringe ich das Argument an, das immer zieht. »Und ich bin schließlich diejenige, die weiß, was damals in der Hütte passiert ist …«
»Das sagst du immer, wenn du deinen Willen haben willst.« Getroffen von ihren Worten, weiche ich zurück. »Das ist nicht dein Ernst.«
»Du willst bloß nicht, dass ich etwas für mich selbst habe«, sagt sie unglücklich.
Wie kann sie nur so etwas behaupten, wo ich so viel für sie geopfert habe? Mein Unmut ist im Laufe der Jahre gewachsen, doch er hat mich nicht davon abgehalten, May alles zu geben, was sie wollte.
»Dir bieten sich doch ständig neue Möglichkeiten«, fährt May fort, nun mit kräftigerer Stimme.
Jetzt verstehe ich, was hier abläuft. Wenn sie nicht ihren Willen durchsetzt, wird sie mir das Leben schwer machen. Aber diesmal werde ich nicht so einfach nachgeben.
»Was für Möglichkeiten?«
»Mama und Baba haben dich aufs College geschickt...«
Das ist schon sehr lange her, trotzdem erwidere ich: »Du wolltest ja nicht.«
»Alle mögen dich lieber als mich.«
»Das ist doch lächerlich...«
»Selbst mein eigener Mann mag dich lieber. Er ist immer nett zu dir.«
Warum soll ich noch länger mit May streiten? Unsere Meinungsverschiedenheiten drehen sich immer um dieselben Dinge: welche von beiden unsere Eltern lieber mochten, wer etwas Besseres besitzt - sei es ein leckeres Eis, ein hübsches Paar Schuhe, einen umgänglichen Ehemann - oder weil eine etwas auf Kosten der anderen tun will.
»Ich kann genauso gut schreien wie du«, beharrt May. »Ich bitte dich nochmals: überlass die Rolle bitte mir!«
»Und was ist mit Joy?«, frage ich sanft und berühre damit den wunden Punkt meiner Schwester. »Du weißt, dass Sam und ich für sie sparen, damit sie eines Tages das College besuchen kann.«
»Das dauert noch fünfzehn Jahre. Und du gehst einfach davon aus, dass ein amerikanisches College Joy aufnehmen wird, als chinesisches Mädchen.« Die Augen meiner Schwester, die noch am frühen Abend vor Freude und Stolz sprühten, funkeln mich plötzlich böse an. Kurz fühle ich mich zurückversetzt in unsere Küche in Shanghai, als Koch uns beibringen wollte, wie man Klöße macht. Es hatte als Spaß für May und mich begonnen und endete in einem furchtbaren Streit. Viele Jahre später nun nimmt dieser Abend, der als netter Ausflug gedacht war, ein unschönes Ende. In Mays Augen sehe ich nicht Eifersucht,
sondern Hass. »Gib mir diese Rolle«, sagt sie. »Ich habe sie verdient .«
Ich rufe mir in Erinnerung, dass sie für Tom Gubbins arbeitet, dass sie nicht den ganzen Tag in einem der Golden-Geschäfte eingeschlossen ist, dass sie mit meiner Tochter zu Drehorten wie diesem gehen und so Chinatown und China City eine Weile entfliehen kann.
»May …«
»Wenn du jetzt wieder mit deinem ganzen Groll gegen mich anfängst, will ich nichts davon hören. Du willst einfach nicht sehen, wie gut es dir geht. Merkst du nicht, wie neidisch ich bin? Ich kann nichts dagegen tun. Du hast alles. Du hast einen Mann, der dich liebt und mit dir spricht. Du hast eine Tochter .«
Da! Jetzt ist es heraus. Doch meine Antwort kommt mir so schnell über die Lippen, dass ich mich nicht mehr bremsen kann. »Und warum verbringst du dann mehr Zeit mit ihr als ich?«
Noch bevor der Satz heraus ist, muss ich an das alte Sprichwort denken, wonach Krankheiten durch den Mund hereinkommen und das Unglück über den Mund herauskommt, weil auch Worte wie Bomben sein können.
»Joy ist lieber bei mir, weil ich sie herze und küsse, weil ich ihr die Hand halte und sie auf meinem Schoß sitzen darf«, fährt May mich an.
»So erzieht eine Chinesin ihr Kind nicht. Sich so anzufassen …«
»Als wir bei Mama und Baba lebten, hast du anders gedacht«, sagt May.
»Das stimmt, aber jetzt bin ich selbst Mutter, und ich will nicht, dass Joy irgendwann gesprungenes Porzellan wird.«
»Dass ihre Mutter sie liebkost, macht sie noch lange nicht zu einem leichten Mädchen...«
»Erzähl du
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