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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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besonders bei MGM. »Die nennen mich da die kantonesische Knallcharge«, erzählt sie voller Stolz. Sie prahlt damit, an einem Tag hundert Dollar mit ihren Kreischkünsten verdient zu haben.
    Dann bekommt May den Auftrag von MGM, Komparsen für den Film Drachensaat zu besorgen, der im Sommer 1944 in die Kinos kommen soll. Sie wendet sich an den Chinesischen Filmclub an der Ecke Main und Alameda Street, wo sich die Mitglieder des chinesischen Komparsenverbandes treffen, und heuert die Leute an, bekommt eine Provision von zehn Prozent für jeden Komparsen und spielt selbst noch im Film mit.

    »Ich habe versucht, Metro zu überreden, Keye Luke einen der japanischen Kapitäne spielen zu lassen, aber das Studio will sein Bild als Charlie Chans Sohn Nummer eins nicht zerstören«, erklärt sie. »Sie haben das dickste chinesische Ei im Nest und möchten es nicht verheizen. Es ist nicht einfach, all die Rollen zu besetzen. Ich brauche Hunderte von Leuten, die chinesische Bauern spielen. Für die japanischen Soldaten soll ich Kambodschaner, Filipinos und Mexikaner anheuern, sagt das Studio.«
    Seit meiner Nacht im Studio bin ich hin- und hergerissen zwischen meinem Abscheu vor Haolaiwu und dem Wunsch, Geld für mein kleines Mädchen zur Seite zu legen. Joy arbeitet seit Kriegsausbruch regelmäßig, und ich habe eine gute Grundlage für das gelegt, was sie meiner Meinung nach für ihre Ausbildung braucht. Meine Chance, sie aus dieser Kunstwelt herauszuholen, eröffnet sich eines Abends, als Joy und May vom Drehen zurückkommen. Joy weint und verschwindet sofort in unserem Zimmer, wo sie inzwischen ein kleines Bettchen in der Ecke hat. May ist stinksauer. Ich habe mich auch schon öfter fürchterlich über Joy aufgeregt. Welche Mutter ärgert sich nicht hin und wieder über ihre Kinder? Aber dies ist das erste Mal überhaupt, dass May böse auf Joy ist.
    »Ich hatte eine großartige Rolle für Joy als dritte Tochter«, schäumt May. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie ein schönes Kostüm bekommt, sie sah richtig süß aus. Doch kurz bevor der Regisseur sie rief, ging Joy zur Toilette. Sie hat ihren Einsatz verpasst! Sie hat mich beschämt! Wie konnte sie mir so was nur antun?«
    »Wie?«, frage ich. »Sie ist fünf Jahre alt. Sie musste auf den Topf.«
    »Ich weiß, ich weiß«, sagt May und schüttelt den Kopf. »Aber ich hatte mir das so für sie gewünscht.«
    Ich ergreife meine Chance, ehe es zu spät ist. »Lassen wir Joy mal eine Zeit lang mit ihren Großeltern in einem der Geschäfte arbeiten«, schlage ich vor. »Auf diese Weise lernt sie mehr zu
schätzen, was du für sie tust.« Ich sage nicht, dass ich sie nie mehr nach Haolaiwu zurückkehren lassen will, dass Joy ab September auf eine amerikanische Schule gehen wird und dass ich nicht weiß, wie ich genug Geld für Joys Collegeausbildung zurücklegen soll, doch May ist so wütend, dass sie mir nicht widerspricht.
    Drachensaat soll der Höhepunkt von Mays Karriere werden. Das Foto von ihr mit Katharine Hepburn am Drehort wird eines ihrer wertvollsten Besitztümer. Beide tragen chinesische Bauernkleidung. Miss Hepburns Augen wurden nach hinten geklebt und schwarz umrandet. Die berühmte Schauspielerin sieht nicht im Geringsten chinesisch aus, aber das tun Walter Huston und Agnes Moorehead, die auch in dem Film mitspielen, ebenso wenig.
     
    Auf meine Kommode stelle ich ein Foto von Joy am Orangensaftstand, den wir für sie vor dem Golden Dragon Café aufgebaut haben. Sie steht inmitten von Soldaten, die sich neben sie hocken, lächeln und ihr den Daumen entgegenstrecken. Das Bild hält einen einzelnen Moment fest, der sich jedoch Tag für Tag und Abend auf Abend wiederholt. Die Jungs in Uniform schauen so gerne zu, wie mein kleines Mädchen in ihrem niedlichen Seidenpyjama und den Zöpfchen Orangen auspresst. Für zehn Cent dürfen sie so viel trinken, wie sie wollen. Einige der jungen Männer trinken drei oder vier Gläser, nur um zu sehen, wie unsere Joy die Lippen vor Konzentration spitzt und dann die Früchte drückt und presst. Manchmal betrachte ich das Foto und überlege, ob sie überhaupt weiß, wie viel sie arbeitet. Oder ist es für Joy eine Abwechslung zu den nächtelangen Dreharbeiten und den Forderungen ihrer Tante? Ein Nebeneffekt: Einige der Männer, die stehen bleiben, um dieses kleine chinesische Mädchen zu betrachten - ein Kuriosum - und ihren Orangensaft zu trinken, der auch noch gut schmeckt, kommen danach zum Essen herein.

    Im September

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