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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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Als wir zu Hause eintreffen, ist Joys Hals so stark geschwollen, dass sie bereits blau anläuft. Irgendwo hören wir Jubel - Söhne, Brüder und Ehemänner werden nun bald heimkehren -, aber Sam und ich haben solche Angst um Joy, dass wir an nichts anderes denken können. Wir wollen mit ihr zu einem westlichen Arzt, kennen aber keinen und haben kein Auto. Wir überlegen gerade, wie wir ein Taxi finden und bezahlen sollen, da kommt Miss Gordon. Im Durcheinander der Nachrichten über die Bomben und durch unsere Angst um Joy haben wir die Nachhilfe ganz vergessen. Kaum erblickt Miss Gordon unsere Tochter, wickelt sie sie in eine Decke und fährt mit uns ins General Hospital, wo nach ihrer Aussage »Leute wie wir« behandelt werden. Innerhalb weniger Minuten sind wir im Krankenhaus, und ein Arzt schneidet meiner Tochter ein Loch in den Hals, damit sie wieder atmen kann.
    Weniger als eine Woche nach Joys Begegnung mit dem Tod ist der Krieg vorbei, und Sam nimmt - erschüttert darüber, beinahe sein kleines Mädchen verloren zu haben - dreihundert Dollar
von unserem Ersparten, um davon einen sehr alten Chrysler zu kaufen. Der Wagen ist gebraucht und verbeult, aber er gehört uns. Auf unserem letzten Foto aus den Kriegsjahren sitzt Sam am Steuer des Chrysler, Joy hockt auf der Stoßstange und ich stehe neben der Beifahrertür. Wir wollen einen Sonntagsausflug machen, unseren ersten.

ZEHNTAUSEND GLÜCKSELIGKEITEN
    Fünfzehn Cent für eine Gardenie«, ruft eine melodiöse Stimme. »Zwei für fünfundzwanzig.« Das kleine Mädchen hinter dem Tisch ist entzückend. Sein schwarzes Haar schimmert im Schein der bunten Lichter, sein Lächeln zieht die Kunden an, die kleinen Finger gleichen Schmetterlingen. Meine Tochter, meine Joy, hat ihr eigenes »Geschäft«, wie sie es nennt, und für ein Kind von zehn Jahren führt sie es ganz hervorragend. Am Wochenende verkauft sie von sechs bis zwölf Uhr nachts Gardenien vor dem Café, wo ich ein Auge auf sie habe, doch sie braucht weder mich noch sonst jemanden, der auf sie aufpasst. Sie ist ein Tiger - mutig. Sie ist meine Tochter - hartnäckig. Sie ist die Nichte ihrer Tante - wunderschön. Ich habe aufregende Neuigkeiten. Ich möchte May allein abfangen, um sie ihr zu erzählen, doch der Anblick von Joy mit den Gardenien fesselt uns beide und hält uns fest.
    »Sieh nur, wie wunderbar sie ist«, gurrt May. »Sie macht das richtig gut. Ich freue mich, dass es ihr gefällt und sie ein bisschen Geld damit verdient. Das ist doch eine wirklich gute Sache, nicht?«
    May sieht umwerfend aus: sie trägt zinnoberrote Seide, wie die Frau eines Millionärs. Sie kleidet sich gut, weil sie es sich leisten kann, das verdiente Geld mit vollen Händen auszugeben. Vor Kurzem ist sie neunundzwanzig geworden. Ach, sie weinte bittere Tränen! Als wäre sie hundertneunundzwanzig geworden. Für mich hat sie sich nicht verändert seit der Zeit, als wir Kalendermädchen waren. Trotzdem sorgt sie sich Tag für Tag, zuzunehmen oder Falten zu bekommen. Seit Kurzem stopft sie Chrysanthemenblätter
in ihr Kopfkissen, damit sie mit feuchten, klaren Augen erwacht.
    »China City ist eine Touristenattraktion, wer sonst sollte die Blumen deiner Meinung nach verkaufen? Das kleinste und niedlichste Persönchen hier«, stimme ich zu. »Und Joy ist aufmerksam. Sie passt auf, dass nichts gestohlen wird.«
    »Für einen Penny mehr singe ich ›God Bless America‹«, sagt Joy zu einem Pärchen, das vor ihrem Tisch stehen bleibt. Sie wartet die Antwort gar nicht ab, sondern schmettert sofort mit hoher, klarer, ernster Stimme los. In der amerikanischen Schule hat sie alle patriotischen Lieder gelernt - »My Country,’Tis of Thee« und »You’re a Grand Old Flag« -, dazu Stücke wie »My Darling Clementine« und »She’ll Be Coming Round the Mountain«. In der chinesischen Methodistenmission in der Los Angeles Street hat Joy »Jesus is All the World to Me« und »Jesus Loves Even Me« in Sze Yup singen gelernt. Zwischen Arbeit, Schule und Chinesischunterricht ist sie ein viel beschäftigtes, aber glückliches kleines Mädchen.
    Joy wirft mir einen kurzen Seitenblick zu und streckt dem Paar lächelnd die Hand entgegen. Diesen Trick - Kunden für etwas zahlen zu lassen, das sie eigentlich gar nicht wollen - hat sie von ihrem Großvater gelernt. Der Mann legt Joy ein paar Münzen auf die Handfläche, und sie schließt so schnell die Finger darum wie ein Äffchen. Dann wirft sie das Kleingeld in eine Dose und reicht der Frau

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