Toechter Aus Shanghai
beherrscht auch Sam die Sprache bald besser - wenn auch nicht die Aussprache. Dennoch ziehen die Onkel Joy unablässig wegen der Schule auf: »Mit der Ausbildung von Mädchen gibt es nichts als Ärger«, warnt Onkel Wilburt. »Was willst du denn? Vor uns davonlaufen?« In ihrem Großvater finde ich einen Verbündeten. Vor gar nicht so langer Zeit drohte er May und mir noch, wir müssten eine Münze in eine Dose werfen, wenn wir vor ihm etwas anderes als Sze Yup sprächen. Für Joy hat er diese Drohung nun abgeändert: »Wenn ich höre, dass du etwas anderes sprichst als Englisch, musst du eine Münze in die Dose werfen.« Ihr Englisch ist fast so gut wie meines, doch ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie sie Chinatown völlig hinter sich lassen soll.
Im Spätherbst versammeln wir uns vor dem Radio und erfahren, dass Präsident Roosevelt den Kongress gebeten hat, das Gesetz zum Ausschluss von Chinesen aufzuheben: »Nationen begehen Fehler, so wie Menschen auch. Wir müssen nun Größe zeigen, um die Fehler der Vergangenheit einzugestehen und zu korrigieren.« Einige Wochen später, am 17. Dezember 1943, werden alle entsprechenden Gesetze gekippt, genau wie Betsys Vater es vorausgesagt hat.
Wir lauschen Walter Winchells Radioübertragung, als er verkündet: »Keye Luke, Charlie Chans Sohn Nummer eins, wäre beinahe der erste chinesische US-Bürger geworden.« Da Keye Luke an dem Tag drehen muss, wird ein chinesischer Arzt aus
New York der erste US-Bürger. Zum Andenken an diesen glücklichen Moment macht Sam ein Foto von seiner Tochter, wie sie mit einer Hand in der Hüfte und der anderen auf dem Radio dasteht. Keine cheongsams mehr für sie! Seit Joy in der Vorschule ist und von uns die Brotdose bekommen hat, liebt sie Cowgirls und deren Kleidung. Ihr Großvater hat ihr auf der Olvera Street sogar ein Paar Cowboystiefel gekauft, und nachdem sie die Sachen einmal angezogen hat, will sie sich nicht mehr davon trennen. Sie strahlt glücklich. Auch wenn der Rest der Familie nicht mit auf dem Bild ist, werde ich nie vergessen, wie wir alle zusammen mit ihr lächelten.
Nach jenem Tag sprechen Sam und ich darüber, ob wir einen Einbürgerungsantrag stellen sollen, aber wir haben Angst, wie so viele Papiersöhne und Ehefrauen, die mit falschen Papieren ins Land geschmuggelt wurden. »Ich habe eine gefälschte Staatsbürgerschaft, weil ich mich als Vaters richtigen Sohn ausgegeben habe. Warum sollen wir das, was wir sicher haben, aufs Spiel setzen? Wie sollen wir der Regierung vertrauen, wenn unsere japanischen Nachbarn in Internierungslager gesteckt werden?«, fragt Sam. »Wie sollen wir der Regierung nach all dem vertrauen, was sie uns angetan hat? Wie sollen wir der Regierung vertrauen, wenn die lo fan uns schief angucken, als wären wir ebenfalls Japaner?« May ist in einer anderen Lage als Sam und ich. Sie ist mit einem echten amerikanischen Staatsbürger verheiratet und lebt jetzt seit fünf Jahren im Land. Sie ist die Erste in unserem Mietshaus, die durch Einbürgerung Amerikanerin wird.
Monatelang zieht sich der Krieg hin. Wir versuchen, das Leben für Joy so normal wie möglich zu gestalten, und das zahlt sich aus. Sie macht sich so gut in der Schule, dass ihre Erzieher aus der Vorschule und die Lehrer in der ersten Klasse sie für ein besonderes Förderprogramm empfehlen. Den ganzen Sommer übe ich mit Joy, um sie darauf vorzubereiten, und selbst Miss Gordon - die ein besonderes Interesse für unser Mädchen zeigt - kommt
einmal die Woche in unsere Wohnung, um meine Tochter beim Rechnen und Lesen zu unterstützen.
Vielleicht übe ich zu viel Druck auf Joy aus, denn sie bekommt eine schlimme Erkältung. Zwei Tage nach dem Bombenabwurf auf Hiroshima schlägt die Erkältung um. Das Fieber steigt, ihr Hals leuchtet rot, und sie hustet so heftig und lange, dass sie sich übergeben muss. Yen-yen geht zum Kräuterheiler, der einen bitteren Tee für Joy zubereitet. Als ich am nächsten Tag bei der Arbeit bin, nimmt Yen-yen Joy mit zum Kräuterheiler, der ihr mit der Kappe eines Kalligrafiepinsels ein Pulver in den Hals bläst. Aus dem Radio vernehmen Sam und ich, dass eine zweite Bombe abgeworfen wurde - diesmal auf Nagasaki. Der Rundfunksprecher sagt, die Zerstörung sei gewaltig und fürchterlich. Die Regierungsvertreter in Washington sind zuversichtlich, dass der Krieg nun bald zu Ende sein wird.
Sam und ich schließen das Café und eilen zu unserer Wohnung, um den anderen die Neuigkeit mitzuteilen.
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