Toechter Aus Shanghai
sagt May, obwohl das nicht die beste Antwort ist, da Verns Probleme oft auf Yen-yens Alter zurückgeführt werden. Angesichts der Gefühllosigkeit ihrer Bemerkung zuckt May zusammen. Sie fragt nicht weiter nach den Narben, weil wir nie darüber sprechen, woher ich sie habe. Stattdessen stellt sie mir gewöhnliche Fragen über meinen Zustand. »Bist du ständig müde? Ist dir morgens schlecht? Ich weiß noch...« Sie schüttelt den Kopf, als wolle sie die Erinnerungen loswerden. »Man sagt immer, dass nur Kinder das eigene Leben verlängern.« Sie berührt meinen Jadearmreif. »Denk mal daran, wie glücklich Mama und Baba wären.« Auf einmal lacht May, und unsere Traurigkeit ist verschwunden. »Weißt du, was das bedeutet? Sam und du, ihr müsst euch ein Haus kaufen.«
»Ein Haus?«
»Ihr legt doch schon seit Jahren Geld zur Seite.«
»Ja, damit Joy aufs College gehen kann.«
Meine Schwester wischt die Sorge mit einer Handbewegung beiseite. »Dafür könnt ihr noch lange genug sparen. Außerdem wird euch Vater Louie bei dem Haus helfen.«
»Ich wüsste nicht, warum. Wir haben eine Absprache...«
»Aber er hat sich verändert. Schließlich ist es für seinen Enkelsohn!«
»Vielleicht, doch selbst wenn er uns helfen würde, möchte ich nicht von dir getrennt sein. Du bist meine Schwester und meine beste Freundin.«
May lächelt mir aufmunternd zu. »Mich wirst du nicht so schnell los. Nicht mal, wenn du es unbedingt wolltest. Ich habe jetzt mein eigenes Auto. Egal, wohin du ziehst, ich komme dich besuchen.«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Doch, sicher! Außerdem gehst du jeden Tag zum Arbeiten
nach China City. Yen-yen wird auf ihren Enkelsohn aufpassen wollen. Ich werde meinen Neffen auch sehen wollen.« May nimmt meine Hand. »Pearl, ein Haus zu kaufen, das ist jetzt genau das Richtige. Du und Sam, ihr habt das verdient.«
Sam ist außer sich vor Freude. Er hat zwar einmal zu mir gesagt, es sei ihm egal, ob er einen Sohn bekäme, aber er ist ein Mann, und was auch immer er sagt, er wünscht sich sehnlichst einen Sohn und braucht ihn sehr. Joy hüpft vor Aufregung durchs Zimmer. Yen-yen weint, sorgt sich aber wegen meines Alters. Vater Louie will sich wie ein echter Patriarch benehmen und ballt die Fäuste, um sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen, kann jedoch nicht aufhören zu grinsen. Vern steht an meiner Seite, ein lieber, wenn auch recht kleiner Beschützer. Ich weiß nicht, ob ich mich größer und aufrechter halte, weil ich glücklich bin, oder ob Vern in meiner Nähe einfach nur schüchtern ist, aber er wirkt irgendwie kleiner und dicker - als würde sein Rückgrat zusammensacken und seine Brust breiter werden. Inzwischen müsste er die krumme Haltung eines Jugendlichen eigentlich abgelegt haben, doch ich sehe oft, dass er sich vorbeugt und die Hände auf den Oberschenkeln abstützt, als stemme er sich gegen Müdigkeit oder Langeweile.
Am Sonntag kommen die Onkel zum Essen, um zu feiern. Unsere Familie wächst - wie so viele in Chinatown. Die chinesische Bevölkerung in Los Angeles hat sich seit unserer Ankunft mehr als verdoppelt. Und das liegt nicht an der Abschaffung der Ausschlussgesetze. Anfangs dachten wir, es würde wunderbar werden, allerdings dürfen über die neue Quote nur 105 Chinesen pro Jahr ins Land. Wie immer finden die Menschen Möglichkeiten, die Gesetze zu umgehen. Onkel Fred hat seine Frau über das Kriegsbräutegesetz hergeholt. Mariko ist ein hübsches Ding, recht ruhig und Japanerin, aber das machen wir ihr nicht zum Vorwurf. (Der Krieg ist vorbei, und sie gehört jetzt zu unserer Familie, was bleibt uns anderes übrig?) Andere Männer haben
ihre Frauen über andere Gesetze hergeschafft, und wenn Mann und Frau zusammen sind, kommen bald Kinder. Mariko brachte kurz nacheinander zwei Kinder zur Welt. Wir lieben Eleanor und Bess, auch wenn sie halb-halb sind, und leider sehen wir sie nicht so oft, wie wir gerne würden. Fred und Mariko wohnen nicht in Chinatown. Sie haben die G.I. Bill ausgenutzt und sich ein Haus in Silver Lake gekauft, unweit der Innenstadt.
Die Männer tragen Unterhemden und trinken aus Bierflaschen. Yen-yen - in einer weiten schwarzen Hose, einer schwarzen Baumwolljacke und mit einer wirklich schönen Jadekette um den Hals - verhätschelt Marikos Töchter und Joy. May wirbelt in einem weit schwingenden amerikanischen Kleid aus Chintz mit einem Gürtel um die Taille durch das große Zimmer. Vater Louie schnippt mit den Fingern, und wir setzen uns
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