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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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eine Gardenie. Sind die Kunden bedient, hält sie Ausschau nach den nächsten. Auch das hat sie von ihrem Großvater gelernt. Jeden Abend zählt sie ihr Geld und gibt es ihrem Vater, der es in Dollarscheine wechselt, die er wiederum an mich weiterreicht, damit ich sie zu Joys Collegegeld lege.
    »Fünfzehn Cent für eine Gardenie«, trällert Joy mit einem ernsten, aber liebenswerten Gesichtsausdruck. »Zwei für fünfundzwanzig.«
    Ich hake mich bei meiner Schwester unter. »Komm! Joy schafft das schon allein. Lass uns eine Tasse Tee trinken.«

    »Aber nicht im Café, ja?« May lässt sich dort nicht gerne sehen. Es ist nicht glamourös genug für sie. Inzwischen nicht mehr.
    »In Ordnung«, sage ich. Ich nicke Sam zu, der im Café hinter der Theke steht und etwas im Wok zubereitet. Er ist jetzt zweiter Koch, aber er kann ein Auge auf unsere Tochter haben, während ich mit May bummeln gehe.
    Meine Schwester und ich spazieren durch die Gassen von China City zum Komparsen- und Requisitengeschäft, das May von Tom Gubbins übernommen hat. Es ist jetzt zehn Jahre her, dass wir in Los Angeles eintrafen, zehn Jahre, seit wir China City erstmals betraten. Als ich zum ersten Mal durch die nachgebaute Chinesische Mauer ging, fühlte ich mich hier vollkommen fremd. Jetzt ist dies meine Heimat: vertraut, gemütlich und geliebt. Es ist nicht das China meiner Vergangenheit - die geschäftigen Straßen von Shanghai, die Bettler, der Spaß, der Champagner, das Geld -, doch vieles hier erinnert mich daran: die lachenden Touristen, die traditionell gekleideten Ladenbesitzer, die Gerüche aus den Cafés und Restaurants und die umwerfende Frau an meiner Seite, die zufällig meine Schwester ist. Beim Gehen erhasche ich unser Spiegelbild in den Fensterscheiben und werde in unsere Kindheit zurückversetzt: wie wir uns in unserem Zimmer umzogen und und sich durch die Kalendermädchenbilder an der Wand unser Spiegelbild vervielfältigte, wie wir zusammen über die Nanking Road gingen und uns in den Schaufenstern zulächelten, wie Z. G. uns in unserer Vollkommenheit festhielt.
    Und doch haben wir uns beide verändert. Ich sehe mich selbst - zweiunddreißig Jahre alt, keine junge Mutter mehr, sondern eine Frau, die mit sich selbst im Reinen ist. Meine Schwester ist eine Blume in voller Blüte. Der Wunsch, Blicke auf sich zu ziehen und bewundert zu werden, brennt immer noch tief in ihr. Je mehr sie ihm nachgibt, desto weniger ist sie zufrieden. Sie wird nie genug haben. Diese Krankheit steckt tief in ihr - von Geburt an, es ist ihr angeborenes Naturell, das Schaf, das umsorgt, gehegt und bewundert werden will. Sie ist nicht Anna May Wong und
wird es auch nie sein, aber sie bekommt mehr Arbeit beim Film und unterschiedlichere Rollen - die launische Kassiererin, das kichernde, unfähige Hausmädchen, die stoische Frau eines Wäschers - als jeder andere in Chinatown. Das macht sie zu einem Star in unserem Viertel und bei mir.
    May öffnet die Tür zu ihrem Geschäft, knipst ein Licht an, und da sind wir - umgeben von den Seidenstoffen, den Stickereien und Eisvogelfedern der Vergangenheit. Sie macht Tee, schenkt ihn ein und fragt dann: »Und, was möchtest du mir so unbedingt erzählen?«
    »Zehntausend Glückseligkeiten«, sage ich. »Ich bin schwanger.«
    May schlägt die Hände zusammen. »Wirklich? Bist du dir sicher?«
    »Ich war beim Arzt.« Ich lächle. »Er sagt, es ist wahr.«
    May steht auf, kommt zu mir und nimmt mich in die Arme. Dann löst sie sich wieder von mir. »Aber wie? Ich dachte...«
    »Ich musste es einfach versuchen, nicht? Der Kräuterheiler hat mir Bocksdornbeeren, Yamswurzel und schwarzen Sesam gegeben. Das musste ich in die Suppe und andere Gerichte tun.«
    »Das ist ein Wunder«, sagt May.
    »Mehr als ein Wunder. Unglaublich, undenkbar...«
    »Ach, Pearl, ich freue mich so.« Mays Freude ist das Spiegelbild meiner eigenen. »Erzähl mir alles! Wie weit bist du? Wann kommt das Baby?«
    »Ich bin ungefähr im zweiten Monat.«
    »Hast du es Sam schon gesagt?«
    »Du bist meine Schwester. Ich wollte es dir zuerst sagen.«
    »Ein Sohn«, sagt May lächelnd. »Du wirst einen kostbaren Sohn bekommen.«
    Das wünscht sich jeder, und ich erröte vor Freude, als ich nur das Wort höre - Sohn .
    Dann legt sich ein Schatten auf Mays Gesicht. »Schaffst du das denn überhaupt?«

    »Der Arzt meint, es wäre nicht gut, dass ich schon etwas älter bin und die Narben habe.«
    »Es haben schon ältere Frauen als du Kinder bekommen«,

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