Toechter Aus Shanghai
sah, bringt nun alles zu einem glücklichen Ende. Doch Vater Louie schlägt kein einziges Mal vor, die »Golden«-Unternehmen zu schließen und mit uns nach China zurückzugehen, obwohl er sonst immer behauptete, er wolle wieder ins Dorf Wah Hong. Warum sollte er sich in sein Heimatdorf zurückziehen, da er nun endlich seinen Enkelsohn bekommt, der von Geburt an amerikanischer Staatsbürger sein wird und seinen Großvater verehrt, wenn der einmal ins Jenseits geht, ein Junge, der Baseball und Geige spielen und einmal Arzt werden wird?
Zu Beginn meines sechsten Monats erhalte ich ein Schreiben mit Briefmarken aus China. Gespannt reiße ich den Umschlag auf und finde darin einen Brief von Betsy. Ich kann nicht glauben, dass sie noch lebt. Sie hat das japanische Internierungslager bei der Lunghua-Pagode überlebt, ihr Mann jedoch nicht. »Meine Eltern möchten, dass ich zu ihnen nach Washington komme, um mich wieder zu erholen«, schreibt sie, »aber ich wurde in Shanghai geboren. Das ist meine Heimat. Ich kann doch nicht fort von hier! Schulde ich es nicht der Stadt meiner Geburt, bei den Wiederaufbauarbeiten zu helfen? Ich habe mit Waisenkindern gearbeitet …«
Ihr Brief erinnert mich daran, dass es einen Menschen gibt, von dem oder über den ich gerne etwas hören würde. Selbst nach so vielen Jahren habe ich Z. G. noch im Kopf. Ich lege eine Hand auf meinen Bauch, der sich inzwischen wölbt wie ein Hefeteig, spüre die Bewegungen des Babys in mir und besuche in Gedanken Shanghai und meinen Maler. Ich habe kein Heimweh und keinen Liebeskummer. Ich bin einfach nur schwanger und sentimental, weil meine Vergangenheit genau das ist: vergangen. Meine Heimat ist hier bei dieser Familie, die ich aus den Scherben
einer Tragödie aufgebaut habe. Meine Krankenhaustasche steht gepackt neben unserer Zimmertür. In meiner Geldbörse habe ich fünfzig Dollar in einem Umschlag, die ich für die Geburt zahlen muss. Wenn der Kleine geboren ist, kommt er in eine Familie, in der ihn alle lieben.
DIE LUFT DIESER WELT
Wie oft hören wir, die Geschichten von Frauen seien unwichtig? Wen interessiere es schon, was im Wohnzimmer, in der Küche oder im Schlafzimmer passiert? Wen kümmert die Beziehung zwischen Mutter, Tochter und Schwester? Ein krankes Kind, die Schmerzen und das Leid bei der Geburt, der Zusammenhalt einer Familie in Krieg, Armut und selbst in guten Tagen, das alles wird als nichtig und unbedeutend erachtet im Vergleich zu den Geschichten der Männer, die gegen die Natur kämpfen, um Getreide anzubauen, die gegen andere zu Felde ziehen, um ihre Heimat zu verteidigen, die auf der Suche nach dem perfekten Mann mühsam in sich hineinhorchen. Man erzählt uns, dass Männer stark und mutig sind, aber ich glaube, Frauen können Niederlagen besser hinnehmen und akzeptieren, können körperliche und psychische Qualen viel besser ertragen als Männer. Die Männer in meinem Leben - mein Vater, Z. G., mein Mann, mein Schwiegervater, mein Schwager und mein Sohn - standen in kleinerem oder größerem Umfang vor diesen großen Schlachten der Männerwelt, doch ihr ach so zartes Herz verwelkte, erlahmte, zerbrach und zersprang, konfrontiert mit den Verlusten, die Frauen tagtäglich verarbeiten müssen. Männer müssen angesichts von Tragödien und Hindernissen eine mutige Miene aufsetzen, dabei sind sie so leicht zu verletzen wie Blütenblätter.
So wie uns gesagt wird, dass die Geschichten von Frauen unbedeutend sind, erzählt man uns auch, dass Gutes immer zweimal kommt und Schlechtes zu dritt. Wenn zwei Flugzeuge abstürzen, warten wir darauf, dass ein drittes vom Himmel fällt. Wenn ein Kinostar stirbt, wissen wir, dass noch zwei weitere ihr
Ende finden werden. Wenn wir uns den Zeh stoßen und unsere Autoschlüssel verlieren, rechnen wir damit, dass etwas anderes geschieht, das den Kreis vervollständigt. Wir können nur hoffen, dass es eine Beule in der Stoßstange, ein undichtes Dach oder eine Kündigung ist statt eines Todesfalls, einer Scheidung oder eines neuen Krieges.
Die Tragödien der Familie Louie kommen in langen, vernichtenden Kaskaden wie ein Wasserfall, wie ein Dammbruch, wie eine Flutwelle, die über uns hereinbricht, alles zerstört und die Spuren mit sich hinaus aufs weite Meer nimmt. Unsere Männer versuchen, stark zu sein, aber es sind May, Yen-yen, Joy und ich, die ihnen Halt geben und ihnen helfen, ihren Schmerz, ihre Qualen und ihre Schande zu ertragen.
Es ist der Sommeranfang des Jahres 1949, der Juni
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