Toechter Aus Shanghai
Sie schaut mir kurz in die Augen, dann hebt sie meinen Rock. Sie versucht kein Gefühl erkennen zu lassen, damit sie mir nicht den Mut nimmt, aber ich kenne sie einfach zu gut. Sie neigt den Kopf, als sie die blutgetränkten Tücher erblickt. Sie saugt die Lippe leicht nach innen und klemmt sie zwischen Schneidezahn und Zungenspitze. Sorgsam streicht sie meinen Rock wieder über den Knien glatt.
»Kannst du zu meinem Auto gehen oder soll ich einen Krankenwagen rufen?«, fragt sie so ruhig, als würde sie sich erkundigen, ob ich den rosa Hut oder den blauen mit dem Hermelinbesatz bevorzuge.
Ich will keine Unannehmlichkeiten machen und kein Geld verschwenden. »Nehmen wir dein Auto, solange dich die Schweinerei nicht stört.«
»Vern!«, ruft May. »Vern, ich brauche dich!« Er antwortet nicht, und May geht in den Flur, um ihn zu holen. Eine gute Minute später kommt sie mit ihm zurück. Der Kind-Mann hat zerzauste Haare, seine Kleidung ist vom Schlaf zerknittert. Als er mich sieht, beginnt er zu wimmern.
»Geh du an eine Seite«, befiehlt May, »ich nehme die andere.«
Gemeinsam helfen sie mir auf, und wir gehen nach unten. Der Griff meiner Schwester ist stark, Vern dagegen macht den Eindruck, als würde er unter meinem Gewicht zusammenbrechen. Auf der Plaza ist heute Abend irgendein Fest. Die Leute weichen rasch aus, als sie mich kommen sehen, eine Hand zwischen die Beine gepresst, zu einer Seite meine Schwester, zur anderen Vern. Niemand möchte eine schwangere Frau sehen, niemand möchte etwas so Persönliches in der Öffentlichkeit beobachten. Vern und May verfrachten mich auf den Rücksitz ihres Wagens, dann fährt sie mich ein paar Häuserblocks weiter zum Französischen Krankenhaus. Sie parkt in der Auffahrt und holt Hilfe. Ich starre durch das Fenster auf die Lampen, die den Parkplatz beleuchten. Ich atme langsam, bedächtig. Mein Bauch liegt auf meinen Händen. Er fühlt sich schwer und still an. Ich rufe mir in Erinnerung, dass mein Baby ein Ochse ist, genau wie sein Vater. Schon als Kind besitzt der Ochse Willenskraft und Durchhaltevermögen. Ich rede mir ein, dass mein Sohn gerade jetzt seinem Naturell folgt, aber ich habe sehr große Angst.
Noch eine Wehe, die schlimmste bisher.
May kommt mit einer Krankenschwester und einem Mann zum Auto zurück, beide sind weiß gekleidet. Sie rufen Anweisungen, legen mich auf eine Bahre und rollen mich in Höchstgeschwindigkeit ins Krankenhaus. May bleibt an meiner Seite, schaut auf mich hinab und redet mir gut zu. »Keine Sorge. Alles
wird gut. Ein Baby zu bekommen tut weh, damit man sieht, wie ernst das Leben ist.«
Ich umklammere die Metallstäbe links und rechts der Bahre und knirsche mit den Zähnen. Schweiß tritt mir auf die Stirn, auf den Rücken, auf die Brust, ich zittere vor Kälte.
Das Letzte, was meine Schwester zu mir sagt, als ich in den Kreißsaal gerollt werde, ist: »Kämpfe für mich, Pearl! Kämpfe um dein Leben, wie du es schon einmal getan hast!«
Kurz darauf kommt mein Sohn heraus, doch er wird nie die Luft dieser Welt atmen. Die Krankenschwester wickelt ihn in eine Decke und bringt ihn mir. Er hat lange Wimpern, eine Stupsnase und ein kleines Mündchen. Während ich ihn halte und in sein hilfloses Gesicht schaue, arbeitet der Arzt an mir. Schließlich richtet er sich auf und sagt: »Wir müssen Sie operieren, Mrs. Louie. Wir müssen Sie in Narkose versetzen.« Als die Krankenschwester mir den Jungen abnimmt, weiß ich, dass ich ihn nie wiedersehen werde. Tränen laufen über mein Gesicht, als mir die Maske über Nase und Mund gelegt wird. Ich bin dankbar für die Schwärze, die mich empfängt.
Ich öffne die Augen. Meine Schwester sitzt an meinem Bett. Ihr roter Lippenstift ist nur noch ein Fleck. Ihr Lidstrich ist verschmiert. Ihr edles Kleid in Immergrün wirkt müde und knittrig. Doch sie ist immer noch schön, und ich werde in eine andere Zeit versetzt, als meine Schwester ebenfalls an meiner Seite in einem Krankenzimmer saß. Ich seufze, und May nimmt meine Hand.
»Wo ist Sam?«, frage ich.
»Bei der Familie. Sie sind unten im Gang. Ich kann sie holen.«
Ich möchte meinen Mann gerne bei mir haben, aber wie soll ich ihm in die Augen blicken? Du sollst ohne Sohn sterben - die schlimmste Beleidigung, die es gibt.
Der Arzt kommt herein, um nach mir zu sehen. »Ich weiß nicht, wie Sie das Kind so lange austragen konnten«, sagt er. »Wir haben Sie fast verloren.«
»Meine Schwester ist sehr stark«, sagt May. »Sie hat
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